Weitgehend unbemerkt vom Literaturbetrieb erschien 2019 Träumen im Steilhang, ein stilistisch, und auch ästhetisch hochinteressantes Buch, auf das wir unsere Leser wegen seiner avantgardistischen Textpräsentationen mit einer kurzen Würdigung aufmerksam machen möchten.
Das Buch betritt stilistisches Neuland insofern als es an figurierte Poesie erinnernde Visuelle Prosa bietet. Die Lyrik kennt die optische Gestaltung von Gedichten ja schon seit der Antike, von wo uns etwa Umriss- oder Gittergedichte überliefert sind. Und natürlich kennen wir solches auch aus der Barockzeit, als kreis-, trichter- und herzförmige Gedichte, um nur einige Formen zu nennen, in hoher Blüte standen. Figurengedichte standen später auch bei DADA im Mittelpunkt und seit den 1950er Jahren auch in der „Konkreten bzw. Visuellen Poesie“. Seither ist der Strom an geometrisch gestalteten Gedichten nicht mehr abgerissen, und es finden sich immer wider Lyrikbände mit visuell gestalteten Gedichten.
Figurenprosa aber ist noch nicht so geläufig und begegnet einem eher selten. Obschon Bleifuß die figurierte Prosa nicht erfunden hat, bildet sein Buch doch wegen der Intensität, mit der hier die Texte opto-artistisch zu einem Erlebnisraum gestaltet werden ein Novum. Was etwa die Autorenngruppe PENG[1] in den 1980er Jahren mit literarischen Open-Air-Installationen in Deutschland erstmals unternommen hat, das entwickelt Bleifuß hier weiter zu einem in Buchform transportablen Gesamtkunstwerk aus Text-Bildern und Bildern mit Texten. Dabei werden manche sprachlich an sich schon dichten Texte durch die optische Formung als Textschnipsel durch bestimmte Geometrien noch dichter und noch schneller. In anderen Fällen wiederum sorgen langbogige, weiche Konturierungen für ein Ritardando des Lesetempos. Die geometrische Gestaltung der Texte bewirkt hier also, was beim Gedicht etwa Zeilenlänge und Zeilensprung bewirken.
Zusätzlich bringt die geometrische Formung bzw. Verformung, und die farbliche Gestaltung der einzelnen Textschnipsel auch eine ästhetische Komponente ins Spiel und hebt insgesamt das ästhetische Vergnügen.
Eine weitere, in ihrer Bedeutung gar nicht zu überschätzende Eigenschaft eignet der geometrischen Text-Gestaltung auch dadurch, dass sie eine optische Zusatzdimension ins Spiel bringt, die die Textinhalte der einzelnen Geschichten kommentiert und letztlich metaphorisch weitet. Anders gesagt, mit der ästhetisch gelungenen, formalen Verquickung von Text- und Bildersprache spielt der Autor in äußerst inspirierter Weise, indem er das Text-Bild-Material als Einheit erachtet und gleichberechtigt mit der Textsemantik so einsetzt, dass die Textaussage durch die optische Gestaltung nicht nur einen ästhetischen, sondern auch einen inhaltlichen Mehrwert erhält.
Der Autor spielt auf diese Art natürlich auch gewaltig mit unseren eingeschliffenen linearen Lesegewohnheiten. Indem wir seinen Geschichten mal entlang einer gerundeten, mal entlang einer komplex verschachtelten Textgeometrie folgen müssen, mal auf an Hieroglyphen erinnernde Text-Inseln geführt werden und von Insel zu Insel hüpfen müssen, oder indem wir uns von einer leuchtenden Farbkugel zur nächsten in einem schwarzen Universum fortbewegen müssen. Stets lockt uns die Geschichte wieder auf einem anderen, noch originelleren Lesepfad in ihr Geheimnis. Wollen wir also wissen, was in einer der 28, teils noch in sich untergliederten Kurzgeschichten des Bandes steht, müssen wir, mit den Augen hin und her springen, das Buch mal nach rechts, mal nach links bewegen oder gar ganz auf den Kopf drehen. Jede Geschichte wird so durch ihre spezifische Text-Optik zu einem eigenen kinetischen Erlebnis.
Etwa die Geschichte Druck, deren eine Untergeschichte von einem Backwettbewerb handelt. Hier begegnet uns das Textbild in sinnfälliger Weise als rautenförmiges Tortendekor, das aus rot- und schwarzgefärbten Sätzen erzeugt ist, wobei die roten Sätze, die Seitenlängen der Rauten, die schwarzen die Rautenflächen bilden. Wenn man sich kreuz und quer durch dieses Rautenmuster liest, merkt man schnell, dass die schwarzen Rautenflächen Dialog- oder Gedankenfetzen von einzelnen Wettbewerbsteilnehmern transportieren:
ja doch / gleich wieder die / Klatsche. Otto hat ein Haar / am Kragen. Und sagt / etwas,
oder:
Antonia / Pokerface! Vor ich/ren Augen zieht ihr ganzes / konditorisches Leben / vorbei.
Die roten Sätze dagegen, die jeweils quer über die „Torte“ laufen und die einzelnen Rauten gegeneinander abgrenzen, bilden den Kontrapunkt dazu und lesen sich als kommentierende oder fragende Jurorenstimmen. Während die Juroren begutachtend von Teilnehmer zu Teilnehmerin gehen, hören wir sie Sätze äußern wie:
„Die Kante könnte ordentlicher sein, aber sonst …“ „Ist das Mokka?“ „Ja gut, schneiden wir das Ding doch mal an!“…! Aha. ist das Mokka?“ „Schön. Sehr sauber gearbeitet …
Der Leser wird so, indem er sich durch die Tortenverzierung liest, direkter Augenzeuge des Begutachtungsvorgangs der von den Wettbewerbsteilnehmern gefertigten Kuchen und Torten und hat das Gefühl dem Wettbewerb „live“ beizuwohnen:
Bei der Geschichte Übersetzungen erfährt der Leser den Inhalt der Geschichte, indem er mit den Augen von Text-Insel zu Text-Insel hüpft, wobei jede Textinsel die Form einer bestimmten Hieroglyphe hat. Hierdurch gibt uns der Autor optisch den Hinweis, dass mehr in der Geschichte steckt, als diese auf den ersten Blick verbal andeutet, dass der Leser hier also etwas aus der in den Text-Inseln erzählten Geschichte übersetzen muss. Bei der Geschichte handelt es sich nämlich um den Traum einer Schülerin, bei dem sich, wie das mit Träumen so ist, Widersprüchliches gleichzeitig abspielt. Dass wir das im Text Gesagte also nicht eins zu eins zu nehmen haben, sondern in einzelne Bilder übersetzen müssen, aus dem sich ein Gesamtbild auf der Sinnebene ergibt, das nun besser die Sorgen, Wünsche, Ängste des Mädchens ausdrückt, wird uns durch die hieroglyphenartige Textdarbietung nahegelegt.
Träume sind verschlüsselte Botschaften, ähneln den ägyptischen Hieroglyphen von archäologischen Ausgrabungen und geben ihre Bedeutung erst Preis, wenn man, wie der Titel der Geschichte anzeigt, adäquate Übersetzungen gefunden hat, wobei es meist mehrere Übersetzungsmöglichkeiten gibt. Das alles sagt uns der Autor in dieser Text-Bild-Kollage. Er bietet durch die spezifische Textgestaltung sozusagen einen optischen Metakommentar zu dem Inhalt der im Text erzählten Geschichte, ohne die Geschichte sprachlich durch einen auktorialen Erzähler kommentieren lassen zu müssen. Das ist ein raffinierter stilistischer Kunstgriff, der zeigt, wie man heute eine Geschichte glaubhaft erzählen kann, ohne sich einerseits den Einschränkungen der Ich-perspektivischen und andererseits den Zwängen der auktorialen Erzählweise beugen zu müssen.
Bei der Geschichte Kaleidoskop oder Treffpunkt der Logiken fällt der optische Kommentar wieder anders aus. Hier folgen wir im Text lesend einem Touristen, der auf einer Hotelterrasse mit Blick auf Strand und Meer frühstückt und sich unter anderem mit einem jungen Spanier in ein ziemlich absurdes Gespräch verheddert. Gleichzeitig gleitet aber unser lesender Blick an der sich Zeile für Zeile ändernden linken Textgrenze entlang, so dass wir durch die Textgeometrie bei der Rezeption des Textinhaltes das Gefühl bekommen, einem harmonisch geschwungenen Küstenstrich zu folgen:
Durch die bikiniförmig gestaltete, eine Bucht imitierende, Textform kommt beim Lesen Strandgefühl auf, und durch die Rotbetonung der Rundungsspitzen, wird sogar der Gedanke an eine Bikini tragende Badende evoziert. Die opto-artistische Textgestaltung trägt hier in eleganter Weise zu einer Mehrfachkodierung des Subtextraumes bei. Hätte der Autor dies alleine durch sprachliche Mittel zu bewerkstelligen versucht, wäre ein umständlicherer und längerer Text die Folge gewesen, der den Textinhalt seines absurden Flairs beraubt hätte.
Als weiteres Beispiel für das ungewöhnlich inspirierende Lesevergnügen, das einem der Band Träumen im Steilhang bereitet, sei die Geschichte Die Welt ist anders hervorgehoben. Diese etwas längere Geschichte schildert in sieben Makroschnipseln sieben unterschiedliche Sichtweisen auf das aberwitzige Leben eines gewissen Sven Gustavsson, der Vorstandsmitglied eines weltweit operierenden Saatgutkonzerns ist. Gustavsson wird, ohne dass er das weiß, von seiner Frau, einer mal als Sekretärin, mal als Hypnotiseurin, mal als Antonella durch die Texte geisternden zwielichtigen Dame, heimlich im Auftrag des Saatgutkonzerns überwacht. Die Welt, wie sie Gustavsson in sieben Textschnipseln erlebt, teilt sich ihm nicht als überschaubar mit, und setzt sich zunächst auch für den Leser, der beim Lesen der Einzelschnipsel anfangs eine ähnliche Verwirrung wie Gustavsson durchmacht, erst am Schluss der Geschichte als sinnvolles Ganzes zusammen. Dann stellt sich nämlich optisch für den Leser heraus, dass sich die sieben Einzelschnipsel zu einem Mosaik komplettierenden Gesamtbild ordnen und erst so einen klärenden Draufblick auf die von Gustavsson als verworren erlebte Welt erlauben. Hier erreicht Bleifuß also optisch, was man im Drama oder der Oper als „Alla parte Sprechen“ bezeichnet und was im Film in Einblenden gezeigt wird, die den Zuschauer von wichtigen Dingen in Kenntnis setzen, welche der Handlungsheld nicht erfährt. Dies ist eine besondere Form von Ironie, die hier optisch realisiert wird:
Zu guter Letzt möchte ich noch die in Form von farbig leuchtenden Blasen erzählte kleine Geschichte Im All anführen. Die Geschichte spielt in einem großen dunklen Weltall, in dem verschiedene Stimmen über ihr früheres Leben nachdenken, über ihre Beziehungen, über Geglücktes und Versäumtes:
… Da war ich um die dreißig, würde ich schätzen, und ich wusste mit der Sicherheit eines Alptraums, dass ich zehn Jahre vorher dieses Mädchen hätte ins Theater einladen sollen. Am nächsten Abend fing es an ….
Die Stimmen erzählen nicht konsistent, sondern lassen die Gedanken in der Art eines ziemlich fragmentierten Bewusstseinsstroms blasenförmig ins All wegschweben, was durch die optische Formung der Texte suggeriert wird, wie das folgende Bild sehr schön zeigt:
Die Bleifuß‘schen „In-Libro-Installationen“ widerspiegeln mit ihrer optisch raffiniert in Szene gesetzten neuartigen Erzählweise inhaltlich und formal die aberwitzige Beschleunigung von Lebensabläufen in einer Welt, die sich rasend schnell einer postfaktischen Dystopie zu nähern scheint, aber auch noch ihre retardierenden, schönen Momente hat.
Alles in allem ist Träumen im Steilhang ein äußerst inspirierendes „steiles“ Lesererlebnis für jeden, den schöne Farben und Formen ansprechen, der Surreales, Witziges, Ironisches und Unterhaltendes, aber auch Dystopisches in kürzeren und sehr kurzen Geschichten sucht. Er wird hier unbedingt fündig.
[1] PENG ist das Akronym aus den Anfangsbuchstaben der Nachnamen der Gründer der Künstlergruppe: Lou A. Probsthayn, Reimer Boy Eilers, Nicolas Nowack und Gunter Gerlach.