Reviews
Ingo Cesaro - Wort-Diebe
Rezension von Amadé Esperer

Wort-Diebe. Die feinziselierte Poesie von Ingo Cesaro

Amadé Esperer

copyright Ariel-Art 25.01.2022

 

Vor kurzem erschien bei éditions trèves der künstlerisch prachtvoll gestaltete Lyrikband „Wort-Diebe“. Der bemerkenswerte Band enthält neue Gedichte des Schriftstellers, Herausgebers und Handpressdruckers Ingo Cesaro und wurde mit Witz und Hintersinn von Dagmar Engels und Alexander Harry Morrison bebildert. Das Buch ist nicht nur sehr bibliophil aufgemacht, sondern vor allem auch lyrisch interessant. Mit den fein ziselierten Gedichten, die um das Thema Sprache und Dichtung kreisen, ist es eine Art poetologischer Selbstauskunft, die uns Cesaro, der ja vor allem durch seine pointierte, politische und Haiku-Lyrik bekannt ist, hier gibt. Wenngleich natürlich viele der in „Wortdiebe“ präsentierten Gedichte durchaus politisch motiviert erscheinen, so sind es doch vor allem Reflexionen über das poetische Schaffen selbst, mit denen uns der Dichter überrascht. Er gewährt uns gleichsam einen intimen Einblick in seine Gedichtwerkstatt und meditiert vor unseren Augen und Ohren in freien, aber rhythmisch raffinierten, Versen über Poesie, über ihre Wirkung, ihre Wahrheit und ihre Gefährdung. Dabei führen diese Gedichte ganz anschaulich an sich selbst vor, wie poetische Schönheit entsteht. Wer die Gedichte gelesen hat, wird beglückt sein. Denn Cesaro gelingt es mit seiner klaren Sprache, die Gedichte für alle zugänglich zu machen, ihnen einen unmittelbaren zugänglichen Sinn mitzugeben. Es sind keine schwer verständlichen, mit einer hermetisch dichten Hecke umgebenen Textgebilde, sondern leserfreundliche Gedichte, die bei den Lesenden positive Hormone, Schönheits-Hormone freisetzen.

Auf einer zweiten Ebene haben die Gedichte jedoch noch eine Tiefendimension, die, so möchte ich es sagen, das poetologische Glaubensbekenntnis Cesaros zum Ausdruck bringen. So meditiert er zum Beispiel in dem Gedicht „Auf der Schreibmaschine gehämmert“ über das Material, aus dem Gedichte hergestellt werden, und dringt dabei bis auf die Ebene der Worte und Silben vor; ja er sieht die Worte und Silben sogar in bloße Buchstaben, ins Nichts zerfallen:

 

Worte auf weißes Papier

mit der Schreibmaschine gehämmert

lösen sich plötzlich Buchstaben

springen hoch

rennen nach allen Seiten

tanzen wild herum

ein Chaos

stürzen ins Nichts

Warum also schreiben, wenn sich doch alles in nichts auflöst? Die Motivation, die jeden ernsthaften Dichter beschäftigt, quält auch Cesaro: Warum überhaupt Gedichte schreiben? Warum heute noch Gedichte schreiben? Ist das nicht ein sinnloses Unterfangen? Diese Frage stellt er in vorliegendem Gedichtband ganz zentral. Eine überraschende Antwort gibt er dann gleich in einem der ersten Gedichte: „Um Worte zu befreien“:

Ich bin mir sicher

in den Steinen

auch in Flusssteinen

unter Wasser

Verstecken sich Worte

Worte auch

aus unserem Schweigen

wären verloren gegangen

hätten Flusssteine

kein Asyl geboten

 

Gedichte schreibt Cesaro also, um Worte zu befreien. Worte, die nicht mehr so einfach zugänglich sind, denn sie liegen unter Flusssteinen. Finden sich nun ganz unten, am Grund des Flusses, des Mainstreams, der Meinungen, mit denen wir tagtäglich auf allen Kanälen überschwemmt werden. Aber diese „abgetauchten“ Worte sind noch da, sie haben sich versteckt, in Sicherheit gebracht, wurden noch nicht gestohlen von jenen, die uns Tag und Nacht mit ihren Schlagzeilen und ihrem schlechten Deutsch überfluten.

Nein, nein, nicht diese Worte der Werbeslogans, nicht diese Warenworte, nicht die leeren Worte, die Worthülsen der Politik, sind da unter den Steinen zu finden. Die holen Worte werden rasch fortgeschwemmt. Nur die gewichtigen, die schwereren, bedeutungsvolleren, bilden den durch den Dichter zu hebenden Schatz. Worte, die unter der glitzernden Oberfläche alltäglicher Desinformationsflut verborgen liegen, die unter den Flusssteinen Asyl gefunden haben. Solche Worte will der Dichter befreien und uns zurückgeben.

Darum schreibt der Dichter Gedichte. Auch heute, gerade heute! Denn zu allen Zeiten mussten und müssen Worte befreit werden, die man verjagt, vertrieben und verboten hatte. Die aber glücklicherweise in ihren Verstecken, unter schützenden Steinen, überleben konnten. In diesem Sinn ist jeder Dichter auch heute noch ein Orpheus, wenn es ihm gelingt, die Worte unter den Steinen zum Singen zu bringen.

Dass der Dichter dabei auch Angst hat, Worte zu befreien, die ihm entgleiten könnten,falsch verstanden werden könnten, bevor er sie in einen treffenden Kontext hat stellen können, geht aus einem der nächsten Gedichte hervor:

 

Schreiben aus Angst

Purer Angst

Dass Worte fliehen

So lange sich noch

Unter meiner Zunge versteckt

[…]

Was hätte alles passieren können

Auf der Flucht der Worte

besonders angreifbar

deshalb auch meine pure Angst

dass Worte fliehen

zwischen Zunge und Papier

und sich unfreiwillig preisgeben

 

Dabei gibt sich der Dichter beim Suchen der richtigen Wörter redlich Mühe, bevor er sie als brauchbar für das, was er sagen will, erachtet und ins Gedicht fließen lässt. Manchmal ist er jedoch so in Schwung, so von einer Inspiration überrascht, dass er, was er ausdrücken will, nicht gut genug in Worte fassen kann. Und so sucht er nach dem richtigen Wort, verwirft Wort um Wort, Formulierung um Formulierung, sein Papierkorb füllt sich, denn nichts drückt den „Geschmack aus, den er auf seiner Zunge schmeckt:

 

mein Papierkorb quillt über

zwei drei Zeilen geschrieben

bin unzufrieden

und schon

der Bogen zerknüllt

später suche ich ein Wort

ein einzelnes Wort

…]

obwohl ich seinen Geschmack

deutlich auf der Zunge

 

Nicht nur der Dichter, jeder Mensch kennt dieses Gefühl, dass man manchmal das, was man als sinnliche Vorstellung, als Geschmack, als Geruch, als Berührung im Kopf hat, dem anderen nicht so sagen kann, wie man es gerade empfindet. Selbst Liebespaare haben da ihre Probleme, wenn sie nicht in kitschige Klischees verfallen wollen.

Letztlich stoßen wir hier auf die Frage, die vor allem die zeitgenössischen Dichter beschäftigt: Welche Darstellungsarten sind überhaupt geeignet für die Darstellung der Welt und unseres Lebens? Es geht also um die Frage „Mimesis oder Fiktion?“ Soll der Dichter die Wirklichkeit genauso abbilden wie sie ist oder soll er lieber erfinden? Geht eine genaue Weltdarstellung überhaupt? Oder ist nicht jeder Versuch, die Wirklichkeit getreu eins zu eins im Gedicht abzubilden, eine von Vorneherein unerreichbare Wunschvorstellung? In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich auch die Frage: Hat die Poesie nicht eine andere Aufgabe als die Naturwissenschaft? Letztere ist ja bestrebt, die Welt sowohl mikroskopisch als auch astronomisch immer genauer zu erfassen und in „Worten“ (Zeichen) der Mathematik zu beschreiben. Will das der Dichter auch?

Nein. Der Dichter geht anders ans Werk. Selbst wenn er gleichzeitig Naturwissenschaftler wäre – viele Lyriker, wie Schiller, Benn oder William C. Williams, waren ja Ärzte und Dichter – würde er doch beim Dichten ganz andere Prinzipien anwenden, als bei der Forschung. Poesie ist nun mal keine Physik, sondern Dichtung, selbst wenn vieles in der heutigen Physik für den Außenstehenden so fantastisch und fiktional erscheinen mag wie zum Beispiel die String-Theorie.

Der Dichter hat, von vorneherein keine getreue Natur- oder Weltabbildung im Auge. Vielmehr interessiert ihn das Poetische an den Erscheinungen. Und dem ist in der heutigen, hochkomplexen Welt durch Mimesis, durch einfache Nachahmung, einfach nicht mehr beizukommen. Das haben zuerst die impressionistischen Maler erkannt. Der Impressionismus hat denn auch die Lyrik des großen Rilke stark beeinflusst. Seither wurde in der Lyrik die Frage „Mimesis oder Fiktion?“ eindeutig für die Fiktion, die poetische Fantasie entschieden. Diese Antwort geben auch Cesaros Gedichte. Dennoch plädiert auch Cesaro, wie jeder wirkliche Dichter dafür, mit offenen Augen und Ohren durch die Welt zu gehen. Aber das genügt nicht, sagt uns Cesaro. Der Lyriker muss mit Lust seiner poetischen Fantasie nachgehen können. Er muss sorgenfrei Sonne und Helligkeit in seine Verse bringen dürfen, selbst wenn er dabei die Augen, zumindest vorübergehen vor den dunklen Zeiten verschließt bzw. mit einer Sonnenbrille schützt:

 

[…]

beginne ich ein neues Gedicht

über die Lust der Sonnenstrahlen

vergesse die dunklen Zeiten

setze eine Sonnenbrille auf

[…]

Das ist ja eines der Geheimnisse der Poesie, dass sie uns, zumindest für den Augenblick eines Gedichts, vergessen lässt, dass es so viel Dunkles, so viel Gemeines, Schlechtes und Widerwärtiges auf der Welt gibt. Gedichte dürfen über Gärten und über Bäume reden, selbst wenn die Zeiten schwierig sind. Hier hat Brecht absolut unrecht. Gedichte müssen über alles und immer reden dürfen. Denn Gedichte sind, wie Hilde Domin das sehr schön gesagt hat, der Ort der Freiheit. Gedichte sind in der Tat zu allen Zeiten und bei allen Völkern wichtige Orte von Freiheit gewesen. Benn hat im Dritten Reich Gedichte geschrieben, obwohl er als Dichter verboten war, Mandelstam hat im Archipel Gulag sogar die meisten und besten seiner Gedichte geschrieben. Dadurch hat er seine innere Freiheit und Würde behalten. Und unzählige unterdrückte und geknechteten Menschen haben zu allen Zeiten Gedichte gelesen, auswendig gelernt und in ihnen Trost und Stärke gefunden gegen die Anbrandungen und Zumutungen schwarzer Zeiten.

Dichtung ist ein Lebenselixier, und Gedichte werden immer und überall trotz all dem Unerträglichen in der Welt, ja gegen all das Unerträgliche geschrieben. Selbst heute, selbst in Deutschland, trotz der vergangenen finsteren Zeiten. Das hat Günter Grass, der nicht nur ein begnadeter Romancier, sondern, was weniger bekannt ist, auch ein origineller Lyriker war, sehr treffend in seiner Replik auf Adornos Diktum, dass nach Auschwitz Gedichte schreiben barbarisch sei, zum Ausdruck gebracht. Solange die Menschen atmen und Augen haben, solange wird es Gedichte geben, wird Dichtung weiterleben. Das sagt uns Shakespeare in seinem wunderbaren achtzehnten Sonett. Denn, auch Gedichte gehören zur conditio humana, und die Sprache ist das, was den Menschen ausmacht, und Dichtung ist die höchste Form von Sprache.

 

Natürlich macht sich Cesaro auch Gedanken über die Wirkung von Gedichten. So stellt er sich gleichsam als Beobachter seiner eigenen Gedichte in deren Schatten und verblasst neben seinen Worten, denn, sobald sie geschrieben sind, gehören sie ihm ja nicht mehr, sondern seinen Lesern. Bei ihnen entfalten sie ihre Wirkung, und sind sie gelungen, ihren Glanz:

Meine Worte

Die Worte neben mir

Dass ich blass erscheine

Sie glänzen

Bei schwächstem Mondlicht

Ich bleibe ein graues Etwas

Ich trete zur Seite

 

Auch wenn er ängstlich ist, wie seine Gedichte beim Publikum ankommen, ist der Dichter doch stolz auf seine Worte, denn er ist sich ihrer guten Wirkung sicher. Schließlich hat er seine Worte wohl gewählt und an seinen Versen so lange gefeilt, dass sie ihre Wirkung nicht verfehlen würden:

 

und wenn ich ehrlich bin

bin ich klammheimlich

ziemlich stolz

auf die Worte

auf meine Worte neben mir

 

In der Tat, Ingo Cesaro kann stolz auf seine Gedichte sein. Gelingt es ihm, dem Meister der Haiku-Form, doch auch in den Gedichten von “Wort-Diebe“, die Dinge so aufleuchten zu lassen, dass sie dem Leser zu kleinen Offenbarungen werden. Durch den raffinierten Trick, Gedichte schreibend über den Baustoff der Gedichte selbst, also das Wort, so zu fantasieren, dass ebendieses Wort zur vieldeutigen Leerstelle, zur ausdeutungsfähigen Chiffre wird, erreicht Cesaro ein Höchstmaß an Ambivalenz. Diese bereitet dem Leser schon deswegen Freude, als er gefordert wird, die Wort-Leerstellen mit seiner eigenen Fantasie auszufüllen. Auch in dieser Hinsicht sind Cesaros Gedichte ein wichtiger Beitrag zur Gegenwart, schlagen sie doch eine Bresche in den Zeitgeist, dem alles Mehrdeutige verdächtig ist. Cesaros Gedichte sind gerade durch ihre Vieldeutigkeit ein gelungener Beitrag, das subversive, demokratische Denken zu stärken. Viel- und Mehrdeutigkeit eröffnen Denkmöglichkeiten, denen im öffentlichen Diskurs heute immer weniger Raum zugestanden wird. Und vergessen wir nicht, Mehrdeutigkeit macht unser eigenes Denken lebendiger. Die „Wort-Diebe“ von Ingo Cesaro lassen die Leser mit neuen Gedanken und einem guten Gefühl zurück. Denn in den Gedichten offenbart sich vor allem auch die Schönheit der blauen Blume Poesie.

 

 

Ingo Cesaro Wort-Diebe, édition trèves, Trier 2022

 

Wort-Diebe. Die feinziselierte Poesie von Ingo Cesaro.

Amadé Esperer

 

Vor kurzem erschien bei éditions trèves der künstlerisch prachtvoll gestaltete Lyrikband „Wort-Diebe“. Der bemerkenswerte Band enthält neue Gedichte des Schriftstellers, Herausgebers und Handpressdruckers Ingo Cesaro und wurde mit Witz und Hintersinn von Dagmar Engels und Alexander Harry Morrison bebildert. Das Buch ist nicht nur sehr bibliophil aufgemacht, sondern vor allem auch lyrisch interessant. Mit den fein ziselierten Gedichten, die um das Thema Sprache und Dichtung kreisen, ist es eine Art poetologischer Selbstauskunft, die uns Cesaro, der ja vor allem durch seine pointierte, politische und Haiku-Lyrik bekannt ist, hier gibt. Wenngleich natürlich viele der in „Wortdiebe“ präsentierten Gedichte durchaus politisch motiviert erscheinen, so sind es doch vor allem Reflexionen über das poetische Schaffen selbst, mit denen uns der Dichter überrascht. Er gewährt uns gleichsam einen intimen Einblick in seine Gedichtwerkstatt und meditiert vor unseren Augen und Ohren in freien, aber rhythmisch raffinierten, Versen über Poesie, über ihre Wirkung, ihre Wahrheit und ihre Gefährdung. Dabei führen diese Gedichte ganz anschaulich an sich selbst vor, wie poetische Schönheit entsteht. Wer die Gedichte gelesen hat, wird beglückt sein. Denn Cesaro gelingt es mit seiner klaren Sprache, die Gedichte für alle zugänglich zu machen, ihnen einen unmittelbaren zugänglichen Sinn mitzugeben. Es sind keine schwer verständlichen, mit einer hermetisch dichten Hecke umgebenen Textgebilde, sondern leserfreundliche Gedichte, die bei den Lesenden positive Hormone, Schönheits-Hormone freisetzen.

Auf einer zweiten Ebene haben die Gedichte jedoch noch eine Tiefendimension, die, so möchte ich es sagen, das poetologische Glaubensbekenntnis Cesaros zum Ausdruck bringen. So meditiert er zum Beispiel in dem Gedicht „Auf der Schreibmaschine gehämmert“ über das Material, aus dem Gedichte hergestellt werden, und dringt dabei bis auf die Ebene der Worte und Silben vor; ja er sieht die Worte und Silben sogar in bloße Buchstaben, ins Nichts zerfallen:

 

Worte auf weißes Papier

mit der Schreibmaschine gehämmert

lösen sich plötzlich Buchstaben

springen hoch

rennen nach allen Seiten

tanzen wild herum

ein Chaos

stürzen ins Nichts

Warum also schreiben, wenn sich doch alles in nichts auflöst? Die Motivation, die jeden ernsthaften Dichter beschäftigt, quält auch Cesaro: Warum überhaupt Gedichte schreiben? Warum heute noch Gedichte schreiben? Ist das nicht ein sinnloses Unterfangen? Diese Frage stellt er in vorliegendem Gedichtband ganz zentral. Eine überraschende Antwort gibt er dann gleich in einem der ersten Gedichte: „Um Worte zu befreien“:

Ich bin mir sicher

in den Steinen

auch in Flusssteinen

unter Wasser

Verstecken sich Worte

Worte auch

aus unserem Schweigen

wären verloren gegangen

hätten Flusssteine

kein Asyl geboten

 

Gedichte schreibt Cesaro also, um Worte zu befreien. Worte, die nicht mehr so einfach zugänglich sind, denn sie liegen unter Flusssteinen. Finden sich nun ganz unten, am Grund des Flusses, des Mainstreams, der Meinungen, mit denen wir tagtäglich auf allen Kanälen überschwemmt werden. Aber diese „abgetauchten“ Worte sind noch da, sie haben sich versteckt, in Sicherheit gebracht, wurden noch nicht gestohlen von jenen, die uns Tag und Nacht mit ihren Schlagzeilen und ihrem schlechten Deutsch überfluten.

Nein, nein, nicht diese Worte der Werbeslogans, nicht diese Warenworte, nicht die leeren Worte, die Worthülsen der Politik, sind da unter den Steinen zu finden. Die holen Worte werden rasch fortgeschwemmt. Nur die gewichtigen, die schwereren, bedeutungsvolleren, bilden den durch den Dichter zu hebenden Schatz. Worte, die unter der glitzernden Oberfläche alltäglicher Desinformationsflut verborgen liegen, die unter den Flusssteinen Asyl gefunden haben. Solche Worte will der Dichter befreien und uns zurückgeben.

Darum schreibt der Dichter Gedichte. Auch heute, gerade heute! Denn zu allen Zeiten mussten und müssen Worte befreit werden, die man verjagt, vertrieben und verboten hatte. Die aber glücklicherweise in ihren Verstecken, unter schützenden Steinen, überleben konnten. In diesem Sinn ist jeder Dichter auch heute noch ein Orpheus, wenn es ihm gelingt, die Worte unter den Steinen zum Singen zu bringen.

Dass der Dichter dabei auch Angst hat, Worte zu befreien, die ihm entgleiten könnten,falsch verstanden werden könnten, bevor er sie in einen treffenden Kontext hat stellen können, geht aus einem der nächsten Gedichte hervor:

 

Schreiben aus Angst

Purer Angst

Dass Worte fliehen

So lange sich noch

Unter meiner Zunge versteckt

[…]

Was hätte alles passieren können

Auf der Flucht der Worte

besonders angreifbar

deshalb auch meine pure Angst

dass Worte fliehen

zwischen Zunge und Papier

und sich unfreiwillig preisgeben

 

Dabei gibt sich der Dichter beim Suchen der richtigen Wörter redlich Mühe, bevor er sie als brauchbar für das, was er sagen will, erachtet und ins Gedicht fließen lässt. Manchmal ist er jedoch so in Schwung, so von einer Inspiration überrascht, dass er, was er ausdrücken will, nicht gut genug in Worte fassen kann. Und so sucht er nach dem richtigen Wort, verwirft Wort um Wort, Formulierung um Formulierung, sein Papierkorb füllt sich, denn nichts drückt den „Geschmack aus, den er auf seiner Zunge schmeckt:

 

mein Papierkorb quillt über

zwei drei Zeilen geschrieben

bin unzufrieden

und schon

der Bogen zerknüllt

später suche ich ein Wort

ein einzelnes Wort

…]

obwohl ich seinen Geschmack

deutlich auf der Zunge

 

Nicht nur der Dichter, jeder Mensch kennt dieses Gefühl, dass man manchmal das, was man als sinnliche Vorstellung, als Geschmack, als Geruch, als Berührung im Kopf hat, dem anderen nicht so sagen kann, wie man es gerade empfindet. Selbst Liebespaare haben da ihre Probleme, wenn sie nicht in kitschige Klischees verfallen wollen.

Letztlich stoßen wir hier auf die Frage, die vor allem die zeitgenössischen Dichter beschäftigt: Welche Darstellungsarten sind überhaupt geeignet für die Darstellung der Welt und unseres Lebens? Es geht also um die Frage „Mimesis oder Fiktion?“ Soll der Dichter die Wirklichkeit genauso abbilden wie sie ist oder soll er lieber erfinden? Geht eine genaue Weltdarstellung überhaupt? Oder ist nicht jeder Versuch, die Wirklichkeit getreu eins zu eins im Gedicht abzubilden, eine von Vorneherein unerreichbare Wunschvorstellung? In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich auch die Frage: Hat die Poesie nicht eine andere Aufgabe als die Naturwissenschaft? Letztere ist ja bestrebt, die Welt sowohl mikroskopisch als auch astronomisch immer genauer zu erfassen und in „Worten“ (Zeichen) der Mathematik zu beschreiben. Will das der Dichter auch?

Nein. Der Dichter geht anders ans Werk. Selbst wenn er gleichzeitig Naturwissenschaftler wäre – viele Lyriker, wie Schiller, Benn oder William C. Williams, waren ja Ärzte und Dichter – würde er doch beim Dichten ganz andere Prinzipien anwenden, als bei der Forschung. Poesie ist nun mal keine Physik, sondern Dichtung, selbst wenn vieles in der heutigen Physik für den Außenstehenden so fantastisch und fiktional erscheinen mag wie zum Beispiel die String-Theorie.

Der Dichter hat, von vorneherein keine getreue Natur- oder Weltabbildung im Auge. Vielmehr interessiert ihn das Poetische an den Erscheinungen. Und dem ist in der heutigen, hochkomplexen Welt durch Mimesis, durch einfache Nachahmung, einfach nicht mehr beizukommen. Das haben zuerst die impressionistischen Maler erkannt. Der Impressionismus hat denn auch die Lyrik des großen Rilke stark beeinflusst. Seither wurde in der Lyrik die Frage „Mimesis oder Fiktion?“ eindeutig für die Fiktion, die poetische Fantasie entschieden. Diese Antwort geben auch Cesaros Gedichte. Dennoch plädiert auch Cesaro, wie jeder wirkliche Dichter dafür, mit offenen Augen und Ohren durch die Welt zu gehen. Aber das genügt nicht, sagt uns Cesaro. Der Lyriker muss mit Lust seiner poetischen Fantasie nachgehen können. Er muss sorgenfrei Sonne und Helligkeit in seine Verse bringen dürfen, selbst wenn er dabei die Augen, zumindest vorübergehen vor den dunklen Zeiten verschließt bzw. mit einer Sonnenbrille schützt:

 

[…]

beginne ich ein neues Gedicht

über die Lust der Sonnenstrahlen

vergesse die dunklen Zeiten

setze eine Sonnenbrille auf

[…]

Das ist ja eines der Geheimnisse der Poesie, dass sie uns, zumindest für den Augenblick eines Gedichts, vergessen lässt, dass es so viel Dunkles, so viel Gemeines, Schlechtes und Widerwärtiges auf der Welt gibt. Gedichte dürfen über Gärten und über Bäume reden, selbst wenn die Zeiten schwierig sind. Hier hat Brecht absolut unrecht. Gedichte müssen über alles und immer reden dürfen. Denn Gedichte sind, wie Hilde Domin das sehr schön gesagt hat, der Ort der Freiheit. Gedichte sind in der Tat zu allen Zeiten und bei allen Völkern wichtige Orte von Freiheit gewesen. Benn hat im Dritten Reich Gedichte geschrieben, obwohl er als Dichter verboten war, Mandelstam hat im Archipel Gulag sogar die meisten und besten seiner Gedichte geschrieben. Dadurch hat er seine innere Freiheit und Würde behalten. Und unzählige unterdrückte und geknechteten Menschen haben zu allen Zeiten Gedichte gelesen, auswendig gelernt und in ihnen Trost und Stärke gefunden gegen die Anbrandungen und Zumutungen schwarzer Zeiten.

Dichtung ist ein Lebenselixier, und Gedichte werden immer und überall trotz all dem Unerträglichen in der Welt, ja gegen all das Unerträgliche geschrieben. Selbst heute, selbst in Deutschland, trotz der vergangenen finsteren Zeiten. Das hat Günter Grass, der nicht nur ein begnadeter Romancier, sondern, was weniger bekannt ist, auch ein origineller Lyriker war, sehr treffend in seiner Replik auf Adornos Diktum, dass nach Auschwitz Gedichte schreiben barbarisch sei, zum Ausdruck gebracht. Solange die Menschen atmen und Augen haben, solange wird es Gedichte geben, wird Dichtung weiterleben. Das sagt uns Shakespeare in seinem wunderbaren achtzehnten Sonett. Denn, auch Gedichte gehören zur conditio humana, und die Sprache ist das, was den Menschen ausmacht, und Dichtung ist die höchste Form von Sprache.

 

Natürlich macht sich Cesaro auch Gedanken über die Wirkung von Gedichten. So stellt er sich gleichsam als Beobachter seiner eigenen Gedichte in deren Schatten und verblasst neben seinen Worten, denn, sobald sie geschrieben sind, gehören sie ihm ja nicht mehr, sondern seinen Lesern. Bei ihnen entfalten sie ihre Wirkung, und sind sie gelungen, ihren Glanz:

Meine Worte

Die Worte neben mir

Dass ich blass erscheine

Sie glänzen

Bei schwächstem Mondlicht

Ich bleibe ein graues Etwas

Ich trete zur Seite

 

Auch wenn er ängstlich ist, wie seine Gedichte beim Publikum ankommen, ist der Dichter doch stolz auf seine Worte, denn er ist sich ihrer guten Wirkung sicher. Schließlich hat er seine Worte wohl gewählt und an seinen Versen so lange gefeilt, dass sie ihre Wirkung nicht verfehlen würden:

 

und wenn ich ehrlich bin

bin ich klammheimlich

ziemlich stolz

auf die Worte

auf meine Worte neben mir

 

In der Tat, Ingo Cesaro kann stolz auf seine Gedichte sein. Gelingt es ihm, dem Meister der Haiku-Form, doch auch in den Gedichten von “Wort-Diebe“, die Dinge so aufleuchten zu lassen, dass sie dem Leser zu kleinen Offenbarungen werden. Durch den raffinierten Trick, Gedichte schreibend über den Baustoff der Gedichte selbst, also das Wort, so zu fantasieren, dass ebendieses Wort zur vieldeutigen Leerstelle, zur ausdeutungsfähigen Chiffre wird, erreicht Cesaro ein Höchstmaß an Ambivalenz. Diese bereitet dem Leser schon deswegen Freude, als er gefordert wird, die Wort-Leerstellen mit seiner eigenen Fantasie auszufüllen. Auch in dieser Hinsicht sind Cesaros Gedichte ein wichtiger Beitrag zur Gegenwart, schlagen sie doch eine Bresche in den Zeitgeist, dem alles Mehrdeutige verdächtig ist. Cesaros Gedichte sind gerade durch ihre Vieldeutigkeit ein gelungener Beitrag, das subversive, demokratische Denken zu stärken. Viel- und Mehrdeutigkeit eröffnen Denkmöglichkeiten, denen im öffentlichen Diskurs heute immer weniger Raum zugestanden wird. Und vergessen wir nicht, Mehrdeutigkeit macht unser eigenes Denken lebendiger. Die „Wort-Diebe“ von Ingo Cesaro lassen die Leser mit neuen Gedanken und einem guten Gefühl zurück. Denn in den Gedichten offenbart sich vor allem auch die Schönheit der blauen Blume Poesie.

 

 

Dieser Review verwendet, wenn grammatikalisch angebracht, unideologisch und den Sprachregeln entsprechend das generische Maskulinum

     

I. Cesaro, édition trèves, Trier, Januar 2022,  57 Seiten, 39 €

~ ~ ~
R E V I E W S 2021
~ ~ ~
Friedemann Spicker u. Jürgen Wilbert & 3 mehr – Der Aphorismus in Europa
Rezension von Stefan Hölscher

Friedemann Spicker, Jürgen Wilbert & 3 mehr – Der Aphorismus in Europa

Review von Stefan Hölscher © ARIEL-ART 20. Juni 2021 

 

Spruch, Sinnspruch, Lehrsatz, Aphorismus sind aufs Engste mit der Geschichte des Denkens verknüpft. Ist der, einen Gedanken tragende, Satz so etwas wie eine natürliche Einheit unseres Denkens, so bildet die metaphorische Zentrierung, die begriffliche Verdichtung, die pointierte Überspitzung oder die paradoxe Wendung von Gedanken so etwas wie die elaborierte, zum Nachdenken, Aufmerken, Memorieren oder Weitertransportieren ausgefeilte Form dieser Einheit. Die historischen Urformen des Aphorismus, der sich als eigenständige literarische Gattung erst ab der Renaissance nach und nach herausgeschält hat, sind also unverkennbar tief in der Denk- und Kulturgeschichte verwurzelt. Und auch wenn im engeren Sinn die historischen Ursprünge der Gattung in der griechisch-römischen Antike, insbesondere bei Autoren wie Hippokrates, Seneca und Plutarch verortet werden, so liegen die Wurzeln des spruchhaften Denkens natürlich historisch noch sehr viel weiter zurück; und sie sind verteilt über alle Gegenden, Länder und Kulturen, die unser Globus zu bieten hat.

Die Idee, „Entwicklungen, Zusammenhänge, Themen“ des Aphorismus im multinationalen Raum in Buchform, und damit systematisch und greifbar, darzustellen, liegt also mehr als nah. Genau einer solchen Idee gefolgt sind Friedemann Spicker und Jürgen Wilbert, beide ebenso langjährige wie ausgewiesene Aphorismusexperten, mit ihrem in der Edition Virgines erschienenen Buch „Der Aphorismus in Europa.“

 

Für mich begann die Lektüre mit einem Missverständnis. Denn ebenso wie der akademisch trocken klingende Titel, gibt einem das Cover des Buches durchaus die Anmutung einer wissenschaftlich fundierten Monographie zu dem Thema; und wenn man andere Schriften der Autoren, sofern es sich nicht direkt um Aphorismen der beiden handelt, kennt, so kann diese Vorstellung direkt weitere Nahrung bekommen. Schon der erste Blick ins Buch verrät jedoch, dass man es hier mit etwas anderem zu tun hat. Auf den gut 300 Seiten nehmen nämlich die dort zusammengestellten Aphorismen weit mehr Raum ein als die erläuternden Texte. Gegliedert ist der Band in zwei Hauptteile, einen historischen, beginnend im 16. Jahrhundert und bis in die Gegenwart führend, und einen thematischen. Während im historischen Teil immer wieder Autoren (es sind tatsächlich fast nur Männer, die die Geschichte des Aphorismus bevölkern) einzelner europäischer Länder des jeweils fokussierten Jahrhunderts mit einer Handvoll Aphorismen zu Wort kommen, werden die Aphoristiker im themenorientierten Teil über zeitliche und nationale Grenzen hinweg in Dialog miteinander gebracht zu Themen wie „Krieg und Frieden“, „Reichtum und Armut“, „Klugheit und Dummheit“, „Glaube und Zweifel“ oder „Liebe und Hass“. Eingeführt werden die einzelnen Abschnitte, wie auch die beiden Hauptteile an sich, mit kurzen, faktenorientierten Erläuterungen. Da die Einführungen und Erläuterungen das ganze Buch durchziehen, handelt es sich offenbar um mehr als eine reine Anthologie. Und mehr als das soll dieses vom Netzwerk „Literaturland Westfalen“ und dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW geförderte Buch wohl auch sein.

 

Die erläuternden Sachtexte sind nun allerdings so kurz, so faktenzentriert und auch so spröde gehalten, dass ich bei der Lektüre immer wieder das Gefühl bekam, als ginge ich durch eine historisch alt-ehrwürdige Stadt, bei der an jedem Gebäude eine Tafel mit allen möglichen Fakten über Bauzeit, Baumaterial, Gebäudemaße, Architekt, Krieg- und Brandkatastrophen, Verfalls- und Renovierungsphasen, etc. hängt, sodass man, wenn man einige Straßenzüge davon durchwandert und ein paar Dutzend dieser Tafeln gelesen hat, hat, erschöpft auf irgendeiner Bank niedersinkt und sich an keine der gerade rezipierten Informationen mehr erinnern kann, weil es einfach viel zu viele waren, die man in so stark reduzierter Form hat aufnehmen müssen.

 

Die kleinen Einführungstexte in dem Band klingen etwa so,     

 

„Markku Enval (geb. 1944)

Literaturwissenschaftler und Schriftsteller. Gedichte, Essays, Aphorismen. Er erhielt 1990 den Finlandia-Preis für die Aphorismensammlung „Samurai Sleeps“ (1989). „And Job Forgives“ wird 2005 zum Aphorismen-Buch des Jahres 2005; 2009 erhielt er einen weiteren Preis für seine Leistungen im Bereich Aphorismus.“

 

Der Vorteil dieser Art der Anmoderation ist die Kürze und Zentrierung auf wesentliche Fakten. Als Nachteil könnte man betrachten, dass einem, wenn man, sagen wir mal 20 dieser Erläuterungen auf ebenfalls 20 aufeinanderfolgenden Seiten gelesen hat, schwindelig wird, und man kaum noch weiß, wo vorne und hinten ist. Allerdings, und diesen unschätzbaren Vorteil bietet natürlich die Form des Buches: man kann Dinge, die einen besonders interessieren, wieder und wieder aufsuchen und sich erneut damit beschäftigen. Dann dürfte auch mehr hängenbleiben.

 

Die Zielrichtung und damit auch das Zielpublikum des Buches, das zwischen Anthologie und Quasi-Sachbuch, zwischen der literarischen Frische der Aphorismen und der ausgesuchten Sprödigkeit der Erläuterungen, zwischen Inspiration und „Wikipediacharme“ changiert, ist für mich nicht ganz eindeutig und auch nicht ganz plausibel geworden. Eindeutig ist aber, dass das Buch sehr viele, sehr lesenswerte Aphorismen versammelt und hierbei tatsächlich interessante historische und multinationale Bögen spannt. Fündig wird hier jeder, der sich für Aphorismen interessiert. Allein schon durch die Gliederung nach Epochen, Ländern und Themenfeldern erscheinen viele Aphorismen in einem neuen, spannenden Licht. Und natürlich wird man auf den 300 Seiten auch zahlreiche Aphorismen und vermutlich auch Autoren entdecken, die man bisher noch gar nicht kannte, die sich aber zu kennen auf jeden Fall lohnen.

 

Ein paar fast zufällig herausgegriffene Kostproben sollen hier genügen:

 

Die Kunst ist das einzig Ernsthafte auf der Welt. Und der Künstler ist der einzige Mensch, der nie ernsthaft ist.

Oscar Wilde

 

Wir rennen unbekümmert in den Abgrund, nachdem wir irgend etwas vor uns hingestellt haben, das uns hindern soll, ihn zu sehen.

Blaise Pascal

 

Es gibt Leute, die glauben, alles wäre vernünftig, was man mit einem ernsthaften Gesicht tut.

Georg Christoph Lichtenberg

 

Wir suchen überall das Unbedingte und finden immer nur Dinge.

Novalis

 

Wir können den Verlust von allem ertragen, außer den unserer Selbsttäuschung.

William Hazlitt

 

Wir begehen manche Sünden bloß, um sie bereuen zu können.

Friedrich Hebbel

 

Das Übel gedeiht nie besser, als wenn ein Ideal davorsteht.

Karl Kraus

 

Kommen Sie mir nicht zu nahe, damit ich Sie achten kann.

Jules Renard

 

Nur noch die Augen sind fähig, einen Schrei auszustoßen.

René Char

 

Sein Gewissen war rein. Er benutzte es nie.

Stanislaw Jerzy Lec

 

Alles, was ich mir sagen kann, ist nichts gegen das, was ich mir nicht sagen kann.

Martin Walser

 

Die Reihe der lesens- und nachdenkenswerten Aphorismen, die dieses Buch enthält ließe sich mühelos fortsetzen. Das soll hier aber nicht passieren. Festhalten darf man aber: Es ist genau diese europäisch multinationale Versammlung des geistvoll Aphoristischen, die den Band von Spicker und Wilbert lesenswert macht.

 

 

Dieser Review verwendet, wenn grammatikalisch angebracht, unideologisch und den Sprachregeln entsprechend das generische Maskulinum

F. Spicker, J.Wilbert (Edition Virgines, Düsseldorf) 2021, 315 Seiten, 19,90 €

Sigune Schnabel - Auf Zimmer drei liegt die Sehnsucht
Rezension von Amadé Esperer

Sigune Schnabel – Auf Zimmer drei liegt die Sehnsucht. Gedichte von Sigune Schnabel und Bilder von Simon Lèbe

Review von Amadé Esperer © ARIEL-ART 14.Mai 2021

 

Mit der Veröffentlichung von Sigune Schnabels neuem Lyrikband ist dem Geestverlag ein lyrischer Coup gelungen. In sieben Zyklen führt uns die poetisch hochbegabte Autorin durch innere und äußere Sprach- und Gefühlslandschaften, lässt uns beobachten, wie aus Gedanken Verse werden und aus Versen Gedichte, deren poetischer Impuls beim Lesen sofort überspringt und deren Bedeutungsoffenheit die Fantasiewelt des Lesers anregt und nachhaltig beschäftigt.

Von dem rauen, oft auch aggressiven Ton, den man sonst von den Eleven und Stipendiaten der Darmstädter Textwerkstatt gewöhnt ist, spürt man bei Sigune Schnabel nicht das Geringste. Ihr Ton ist nicht vorlaut, eher leise, aber dennoch bestimmt. Ihre Sprache ist klar und deutlich, an keiner Stelle unscharf oder verschwommen, dafür von einer ungeheuren Musikalität durchdrungen. Sie hat sich offenbar weniger von den scholastischen Schablonen dieser Textwerkstatt als vielmehr von ganz großen Meistern der Dichtkunst, wie Rilke, anregen lassen. Gekonnt bezieht sie sich auf dessen Herbstgedicht und variiert es so, dass es durch ihre ureigene Lebenswirklichkeit, die darin aufscheint, an frischer Authentizität gewinnt:

 

      Einen Steinwurf entfernt

 

      An meinem Glück sind die Gardinen

      fein geworden:

      Ich sehe nicht hinein,

      wenn ich von außen an die Scheiben klopfe.

 

      Leg mir noch einmal Wind ins Haar,

      jetzt, da die Silben gefrieren

      und unverrückbar an den Tagen haften.

 

      Gib mir noch einmal eine Handvoll Regen

      und ein Zittern, wenn du Steine

      in den Sprachfluss wirfst.

 

      An seinen Ufern sitzt du,

      streckst die Zehen aus

      und bildest Wellen.

 

Obwohl die Autorin keine klassischen Formen benutzt, bringt sie es fertig, ihre in freien Versen komponierten Gedichte zu wahren Klangereignissen werden zu lassen: Indem sie mit Binnenreimen nicht spart, sie oft mit Endreimen im Sinne von Schlagreimen anreichert und gleichzeitig mit Assonanzen und Alliterationen akkumuliert, gewinnen ihre Gedichte eine enorme, teils melodische teils expressive Klangdichte. Wirkungsvoll stechen auch die Zeilensprünge und metrischen Hebungspralle hervor, die sie sparsam, aber wohlkalkuliert und effektvoll einsetzt, wodurch dem Gesagten semantischer Nachhall verliehen wird. Hier ein paar Beispiele:

 

      […]

      Immer wieder kommt ein Mann hervor

      aus ungenutzten Stunden.

      Er atmet, schaut und geht

      an mir vorbei.

      Frei bin ich nicht

      und doch: ein Tier

      das aus der Sprache trat

      […}

 

Oder:

 

      […]

      Du wartest auf ein Schiff,

      das übersetzt; ich wate

      durch den Großstadtsumpf

      und jage Stunden.

      Gefiedert ist ihr Bauch und weiß,

      dass sie zu schade sind

      für meine Hände.

      Noch einmal wende ich mich.

      Ich binde Reben um mein Wort;

      Ich gehe fort aus dem

      Verwickelten Gelände.

      […]

 

Meist sind die knapp hundert Gedichte nicht länger als zwei drei Strophen und umfassen selten mehr als zwanzig Zeilen. Doch die Autorin versteht es, in dieser Kürze ein hohes Maß an poetischer Würze zu präsentieren. Dadurch dass sie ihre Gedichte nicht mit hermetisch unzugänglichen Hecken abschirmt, sind sie dem Leser*[1] unmittelbar erschließbar. Viele Gedichte transportieren aber, wie es ja geradezu ein Kennzeichen von guter Lyrik ist, semantische Subtexte und sind doppelt oder mehrfach kodiert. Ihre Metaphern- und Bildersprache wirkt dabei nicht aufdringlich, eher hingetupft wie ein Gemälde von Dufy, aber doch so raffiniert, dass sie den meisten Gedichten eine luzide Ambivalenz verleiht. So gelingt es der Autorin, quasi nebenher, die tiefsinnigsten Gedichte zu schreiben. Als ein Beispiel möchte ich hier die ersten beiden Strophen des Gedichts Fährmann, setz mich über … anführen, bei dem der Titel schon Bestandteil des Gedichtkörpers ist, und das man als ein poetologisches Gedicht lesen kann:

 

      Fährmann, setz mich über meinen

      Gedankenstrom, wild

      rauscht er an die Ufer und geht

      zu tief.

      An meiner Muttersprache bricht er die Wellen hart

      und laut, raubt mir

      den Schlaf.

 

      Unter deinem Blick

      habe ich die Zunge verloren.

      Wenn wie sitzen, ist mein Atem kaum hitziger

      als deine inneren Gezeiten:

      sonnengewärmt

      an die Böschung

 

      Fährmann, setzt mich

      über. Seit letztem Winter

      ist meine Stimme verwitwet.

 

 

Hier variiert die Autorin mit großem Geschick den alten Topos des Über-einen-Fluss-Setzens, der sowohl für das Übersetzen von einer Sprache in eine andere als auch für die Passage vom Leben ins Totenreich steht. Bei dem Fährmann, der feierlich mit Vokativ zu Beginn der ersten und der letzten Strophe angerufen wird, denkt man natürlich an Charon, der für die Überfahrt über den Styx mit einer Münze bezahlt wird, die man dem Toten vorher unter die Zunge zu legen hatte. Auf dieses Detail spielt das Gedicht an, wenn es sagt: Unter deinem Blick / habe ich die Zunge verloren. Das Gedicht situiert sich also deutlich vor diesem klassisch-mystischen Hintergrund und oszilliert, was den transportierten Subtext betrifft, zwischen zwei Vorgängen aus ganz unterschiedlichen Bedeutungswelten: dem linguistischen Vorgang des Übersetzens und dem Sterbeprozess. Dadurch ergibt sich sogar noch eine dritte Dimension: die des Verlorengehens beim literarischen Übersetzen. Die Autorin weiß als diplomierte Literaturübersetzerin, wovon sie spricht und lässt in ihrem Gedicht diese Erkenntnis aufblitzen, dass beim Übersetzten von Texten, vor allem auch von Gedichten, immer etwas verloren geht. Auch beim Lesen eines Gedichts in der eigenen Muttersprache ist nicht gesichert, dass der Leser alle Nuancen versteht, die der Dichter oder die Dichterin hineingeschrieben hat. Denn beim Lesen von schwierigen literarischen Texten, und gute Gedichte sind ja solche Textsorten, findet beim Leser immer ein Übersetzen statt: von der lyrischen Sprache in die Alltagssprache. Auch unter diesem Aspekt ist das vorliegende kluge Gedichte von Sigune Schnabel zu sehen.

In den sieben Zyklen bearbeitet Sigune Schnabel jedoch nicht nur poetologische, um das Dichten und Übersetzen kreisende Fragen, im Gegenteil, sie widmet sich einem weiten Feld von Themen, das von linguistisch-poetologischen Reflexionen, zu persönlicher Befindlichkeit und Nachdenken über Glück und Liebe, über die Stellung des Individuums in der Gesellschaft, von der Verarbeitung von Unglück und Krankheit bis hin zum Alter und Sterben reicht. Interessant ist, dass die noch junge Dichterin auch einen Blick für Kinder und alte Menschen hat. Dass sich in diesen Zeiten der Corona-Pandemie und der dadurch entstandenen vielfältigen Folgen für den einzelnen und die Gesellschaft insgesamt auch Gedichte zu dieser Thematik finden, ist daher nicht sehr verwunderlich. Waren und sind in diesem Zusammenhang doch vor allem jüngere und ältere Menschen Hauptleidtragende. Sigune Schnabels lyrische Gedanken kreisen gerade auch um diese Menschen.

Die Verse eines der Krankheit gewidmeten Gedichtes (Nur geträumt) sind sogar Titel gebend für den Lyrikband, womit die Autorin andeutet, dass auch sie durch den Schrecken und die Auswirkungen der Pandemie tiefgreifend berührt wurde. In dem Gedicht Im Jahr, als die Zukunft gestrichen wurde nimmt sie die beunruhigenden Auswirkungen der Einschränkungen, die der Gesellschaft im öffentlichen und im Wort-Raum durch die Infektionsschutzmaßnahmen und Vorschriften auferlegt wurden, näher in den Blick:

 

      Im Jahr, als die Zukunft gestrichen wurde,

      mit einer roten Linie

      durch die Hälfte der Buchstaben,

      kletterte ich in die Norm.

      Am Rand war sie kahl

      geschoren. In der Mitte

      roch es nach Moss

      und einem Hauch welk.

 

      Der Regen legte seine Lippen auf meine,

      um mir zu zeigen,

      woher der Wind weht.

      Seine Hände: die einer alten Frau.

      […]

 

Was einen für diese Gedichte einnimmt, ist die Tatsache, dass Schnabel die Probleme gerade der Schwächsten der Gesellschaft thematisiert, wie unter anderen dieses Gedicht und die folgenden zwei erkennen lassen:

 

 

      Nur geträumt

 

      Die Kinder haben Köpfe

      unter den Füßen.

      Sie kommen am Morgen

      und hängen Lupinen

      in Kränzen über mein Wort.

 

      Auf Zimmer drei liegt die Sehnsucht

      kalkweiß.

      Nachmittags geht sie über den Gang

      drei Schritte hin, drei zurück.

 

      Zwischen den Infusionen trägt sie

      einen grünen Mantel

      […]

 

Und:

 

      Im Abendstern sitzen die Kinder

      Mit hängenden Schultern

      und ziehen den Gedanken Fäden.

      […]

      Zerrissene Momente nähen wir zusammen,

      stopfen Löcher

      von Erinnerungen,

      bis wir vergessen, dass Märchen gut enden.

      […]

 

 

In ihren teils sehr erotischen Liebesgedichten findet Schnabel schöne, zarte Bilder. Sie sprechen verhalten von Glück und Hoffnung und sind fast alle durchweht von Melancholie. Gerade durch diese melancholische Tönung gelingen der Autorin so intime Gedichte, wie etwa das folgende, in dem mit den zartesten Aquarelltönen, um es mit einer malerischen Metapher zu beschreiben, ein Geschlechtsakt angedeutet wird.

 

      Liebesbrief

 

      Der Staub fliegt mir

      um Kopf und Kragen.

      Ich wage einen Schritt

      aus meiner Haut.

      Am lauten Ende

      stehst noch immer du:

      ein Tier, das wittert

      und im Bittermandelduft sich wiegt,

      das tänzelt

      über kleinen Wüsten

      meiner Seele.

      [..]

 

Oder auch das folgende Gedicht:

 

      Auf einem

      dieser punkte zwischen uns

      liegt noch Schnee

      […]

      Der Wind summt kalt, er ist

      Ein Mann mit Haar aus Nacht,

      und jemand beugt sich über mich.

      Ein dicht gewebtes Netz aus Einsamkeit

      schaukelt am Baum.

      In diesem Raum riecht jedes Schweigen

      Einen Hauch nach dir.

 

Immer wieder finden sich in die sieben Zyklen Gedichte eingestreut, die das Selbstverständnis des lyrischen Ichs und seine Beziehung zu anderen und dem gesellschaftlichen Umfeld kritisch reflektieren. Diese Gedichte fahren, im Gegensatz zu den anderen, sanfteren Texten, ihre Stacheln aus und weisen deutlich auf gesellschaftspolitische Mängel hin. So etwa die folgenden Verse, die auch wieder eine Art poetologisches Bekenntnis der Autorin darstellend, sich gegen jedwede ideologische Vereinnahmung wenden, selbst wenn diese durch Freunde versucht wird:

 

      Niemandes Kind

 

      Ich lasse nicht das Lesen bleiben

      In der Zwickmühle,

      in der Worte scheuern.

 

      […]

 

      Freunde nähten mir Meinungen

      auf die Haut

      die manchmal laut sind

      oder glatt wie ein Festanzug,

      den ich nie wollte.

      Ich sollte mich anschmiegen und biegen

      und sehnte mich nur zu verstehen.

      Und doch bin ich niemandes Kind.

 

Oder auch:

 

      Suche / Herbst

 

      Dem Land steigt Dunst

      aus allen Poren,

      und auf die Stimmung legt sich

      Herbst.

      […]

 

Und auch:

 

      Gespiegelter Herbst

 

      Wie spiegeln uns im Fenster

      mit einer Welt, die wir nicht retten,

      betten Erinnerungen auf Laub

      und rauben Silberglanz

      dem Abend.

      Mit vollem Mond

      spricht mir die Nacht noch einmal Sterne

      vor die Augen.

      Sie taugen nur für Schwindel.

      […]

 

 

Dass die Autorin auch einen Hang zum Witzigen und eine Vorliebe für absurden Humor, hat zeigt sich in den nicht wenigen Gedichten, in denen sie mich ein bisschen an so manche poetische „Skurrilität“ Emily Dickens erinnert. Meine dunkle Seite ist so ein Gedicht:

 

      Meine dunkle Seite

      Hat Kaffeeflecken, und gewellt

      Ist sie am Rand.

      Ich fand sie gestern

      Auf den Kopf gedreht.

      Sie tuschelt mit der Glut

      auf meinen Wangen.

 

      Am Abend halte ich sie

      in mir selbst gefangen.

      Sie redet mir dann häufig

      nach dem Mund.

 

Oder auch:

 

      Gegen mich

 

      Das Fenster fliegt auf

      bei seinem Versuch,

      mich zu täuschen.

      Vor Geräuschen des Sturms

      bin ich geflüchtet

      auf die leise Seite

      in die Weite der Gedanken.

 

      Jetzt ist der springende Punkt

      still geworden und liegt

      mir zu Füßen.

      Ich stoße ihn an

      und er rollt unters Bett.

 

Sigune Schnabel ist mit ihrem neuen Lyrikband ein poetisches Feuerwerk gelungen. Dabei glitzern, funkeln und leuchten ihre Gedichte in allen Farben. Auch in der Farbe der Melancholie. Und gerade das macht sie zu authentischer, durch das Leben beglaubigter Lyrik. Zu den Gedichten passt die Bebilderung mit den unaufdringlichen Gemälden von Simon Lèbe. Durch die harmonische Abstraktheit der Bilder passen sie sich gut in die lyrische Sphäre, lassen den Gedichten ausreichend Entfaltungsraum und machen so den Lyrikband zu einem rundum ästhetisch gelungenen Ereignis.

 

 

[1] * Dieser Review verwendet, wenn grammatikalisch angebracht, unideologisch und den Sprachregeln entsprechend das generische Maskulinum

Sigune Schnabel. Auf Zimmer drei liegt die Sehnsucht (Geest, Vechta) 2021, 142 Seiten, 12 €

Arne Rautenberg - betrunkene wälder
Rezension von Amadé Esperer

Arne Rautenberg – „betrunkene wälder“

Amadé Esperer, Rezension, ©ARIEL-ART (MAI) 10.05.2021

Er ist optisch eine Augenweide, dieser Lyrikband von Arne Rautenberg. Man merkt, dass der Autor kein bloßer Wortakrobat, sondern auch ein optisch Inspirierter ist. So finden sich in dem jüngst bei Wunderhorn herausgekommenen Band betrunkene wälder, zahlreiche Bildgedichte. Sie machen das Buch lebendig und verführen einen, es nicht aus der Hand zu legen, bevor man es nicht zu Ende gelesen hat. Gedanken an die Zeit des Barocks drängen sich auf. Damals gestattete sich die Dichtung erstmals solch optische Opulenz, ja brachte die Kunst des Figurengedichts zu einer ersten Blüte. Aber nicht nur visuell, auch lyrisch verbal schwelgt Rautenberg in barocken Bildern und hat sich sogar von der in der Barockdichtung allenthalben anzutreffenden Memento-Mori- und Vanitas-Thematik anregen lassen. So etwa in dem Gedicht vorfrühling in zürich, in welchem der Leser*[1] beim Lesen des Textes auch visuell die „Lebenstreppe“ hinabsteigt:

 

      …[ … ]

      die zeit da steigt man ab

      vom rietberg geht zurück

      in die stadt und spürt etwas

      von der angst

      es tanzt ein kni kna

      knochenmann

      in unsrer welt herum

      und alle warten

      auf das fern schon

      donnernd fidebumm

 

 

Auch greift Rautenberg stilistisch gerne auf ein markantes rhetorisches Mittel der deutschen Barocklyrik zurück, nämlich die asyndetische Reihe. Dadurch wird das dramatische Vibrieren der Gedichte noch weiter verstärkt. So etwa in dem Eingangsgedicht aus allen himmeln stürzt es. Dieses Gedicht ist nicht nur verbal aus einer Reihung von Worten und Satzteilen komponiert, die alle auf das Fallen hin orientiert sind, sondern zusätzlich in einer dazu passenden Form figuriert, die dieses Aus-dem-Himmel-Stürzen auch optisch unterstreicht: Gleichsam wie aus einer breiten Gewitterwolke, so veranschaulicht die wortbegleitende Optik, stürzt der Text vom Himmel herab auf einen einzigen Fleck zu, auf ein „es“. Da Rautenberg konsequent der Kleinschreibung frönt, könnte sich in diesem „es“ durchaus auch das Freud´sche „Es“ verbergen. Wie auch immer, ein Strudel apokalyptischen Herabbrausens wird hier opto-verbal in Szene gesetzt:

 

 

      erdklumpen fallen baumwurzeln stürzen auf wälder steine

        prasseln in den still liegenden see betrunkene amseln

         fallen vom himmel eidechsen muscheln finger

             fallen stinkende fische fallen vom himmel

               gefrorene karpfen durchschlagen autoscheiben

              bohnen und erbsen stürzen ein schwarm fledermäuse

            gerät in einen gewittersturm zerkleinerte körperteile

         fallen es regnet fleisch und blut haarbüschel

        fallen stinkende schlammverschmierte frösche

          patschen zu zentimeterdicken schichten neben

              den parkplatz zerfetzte rhabarberblätter

               fallen es regnet singvögel die straßen

                gesäumt von tausenden kadavern in

              gärten auf feldern und dächern es

            regnet äpfel birnen und nüsse

          millionen schwarzer spinnen

         schweben vom himmel

              es regnet würmer

                  papiere schneien

                     umtanzen den

                        weißen staub

                      aus allen

                    himmeln

                 stürzt

                es

 

 

Dass alles nicht so todernst gemeint ist, in diesem Band, der ja immerhin betrunkene wälder betitelt ist, zeigen die vielen anderen Gedichte, die meist nur so vor Ironie und Sarkasmus sprühen. Vor allem dann, wenn von Kunst, sei es Dichtkunst, bildender Kunst oder Kunstgeschichte, die Rede ist. Ironisch witzig gebärdet sich in diesem Zusammenhang zum Beispiel das neue gedicht, das eine ziemlich eindeutige Kritik an der heutigen Lyrikszene ist, lässt es doch erahnen, was heute so alles als Gedicht durchgeht:

 

      das neue gedicht

 

      ich mailte einem arrivierten

      mein neuestes gedicht

      er schrieb zurück

      welch schönes stück welch feines licht

 

      da merkt ich dass ich ihm

      nicht das gedicht stattdessen

      bloß notizen zum gedicht

      gab zum ermessen

 

      also überschüsse redundanzen

      leerzeilen variationen

      unfertige halbgedanken

      die allemal zum streichen lohnen

      [ … ]

 

Es mag wie ein kalauerndes Klischee klingen, aber das Lesen von Arne Rautenbergs Lyrikband betrunkene wälder macht, wenn nicht betrunken, so doch zumindest beschwipst. Mich jedenfalls, der ich kürzlich so manch lyrisch hochtrabenden Text zu besprechen hatte. Ja, Arne Rautenberg gehört zu jenen Lyrikern, die sich selbst und unsere Zunft auf die Schippe nehmen können. Er gehört zu jener seltenen Autorenspezies, die vor Witz und Fantasie nur so sprühen, und die meisten seiner in betrunkene wälder versammelten Gedichte haben das gewisse poetische Etwas, das sofort auf den Leser überspringt und ihn in Inspiration versetzt. Wie schön, dass es noch Lyriker gibt, die nicht nur ethisch, sondern vor allem auch ästhetisch unterwegs sind.

Natürlich thematisiert Rautenberg in seinen Gedichten auch gesellschaftlich und politisch relevante Prozesse. Das gelingt ihm in vielen Fällen poetisch durch seinen verbalen Witz und die optische Aufbereitung der Gedichte ganz gut. Leider nicht immer: Das sich schon visuell sehr sperrig gebende längere Gedicht mit dem langen Titel ausrücken den horizont erblicken die finger in den wind halten und will zu viel auf einmal und überzeugt gerade dadurch nicht so recht. In der Art einer Ballade epischer angelegt, als die meisten anderen Gedichte in diesem Band, verknüpft der Autor Ereignisse aus dem Zweiten Weltkrieg mit der Jetztzeit. Dabei bedient er sich leider allzu flacher, abgedroschener Klischees, um zu zeigen, dass er auf der Seite der Guten mit der richtigen Haltung steht: So „harren wir heute in komfortablen heimen“, „fette SUVs“ stürzen über Klippen, die Menschen „prassen mit übergezogenen Masken“ etc. etc. Als wäre das nicht schon genug, pfropft der Autor auch noch ein bisschen ökologische Korrektheit in die beiden letzten Strophenblöcke:

an den domestizierten küstenstrichen gibt es kaum mehr ungeziefer das / an den autoscheiben kleben bleibt / wir schießen durch die monokultur / des rapses

Öffnen elektrische fensterheber für den duft einer geopferten // kindheit süßlich senfig windig waps ist ein bastard aus klassischer moderne und / müllhalde …

Also, lieber Autor, dieses „Gedicht“ will zu viel und schafft zu wenig, um poetisch zu überzeugen. Man ist versucht, es zusammen mit dem Gedicht bilder aus der frühzeit der alten zeitgenossenschaft per Förderband in den „Denis-Scheck-Orkus“ zu befördern. In beiden Gedichten überzeugen weder die Bilder noch die Sprache. In beiden Gedichten blitzt allzu offensichtlich Zeitgeistismus aus poetisch fadenscheinigen Nähten.

Schwamm drüber. Die meisten Gedichte strotzen ja nur so vor poetischer Vitalität. Denn Rautenberg ist ein sehr verspielter Lyriker. Man merkt, dass er für und mit Kindern geschrieben hat. Das tut den Gedichten gut, was Rhythmus- und Klanggestalt angeht, auch der Endreim, der immer mal verwendet wird. Nicht zuletzt dadurch gelingen dem Autor klanglich bunt gefärbte Gedichte. Freilich wirkt manch reimüberladener Text, ein bisschen zu süß, zu manieriert.

Auf jeden Fall kann man Rautenberg, poetisch gesehen, einen enormen Spieltrieb bescheinigen, der selbst vor dadaistischen „Blödeleien“ nicht zurückschreckt. So etwa in dem Gedicht in wolken ein gesicht, das beim ersten Hinsehen aus nichts als mit Vokalen besetzten Zeilen zu bestehen scheint. Jedoch, noch bevor man denkt, was das soll, merkt man, dass da ja auch noch ein paar Konsonanten im Spiel sind, und plötzlich ist man begeistert und ästhetisch beglückt, denn das Gedicht macht, was es sagt, es ist performativ aktiv:

 

      eeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeees

      löööööööööööööööööööööööööööööööööööööööst

      siiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiich

      aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaauuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuf

      veeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeer

      schwiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiin

      deeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeet

      niiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiicht

 

Die originellen, fantasiereichen und poetisch zum Klingen gebrachten Gedichte, sowie ihre immer wieder überraschenden visuellen Inszenierungen, machen betrunkene wälder zu einem wahrhaft beglückendem Lesevergnügen.

 

 

[1] Der Artikel verwendet durchgehend das generische Maskulinum, das sprachlich bekanntlich für alle sexuellen Geschlechter steht

[2] Adorno, Theodor (1977). Kulturkritik und Gesellschaft. In: Gesammelte Schriften, Band 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I, „Prismen. Ohne Leitbild“. Suhrkamp, Frankfurt am Main.

Arne Rautenberg. betrunkene wälder (Wunderhorn, Heidelberg) 2021, 100 Seiten, 20 €

Christoph Szalay - RÆNDERN
Rezension von Reinhard Lechner

RAENDERN von Christop Szalay

Reinhard Lechner. ©  Ariel-Art (APRIL-MAI) 03.05.2021

Szalays lyrisches Ich war immer ein romantisches, zugleich zweifelte es an seinem Verehren, hinterging es mit poetischen Mitteln.  Das verhielt sich so in seinen Gedichtbänden ein und zwei  („stadt.land.fluß“  und „flimmern“) mit der Liebe, und in Band drei mit dem Reisen („Asbury Park, N.J“). In seinem Beobachten, seiner Entdecklust und Hingabe hält das Ich plötzlich inne und fragt, ob dies nun Wahrhaftigkeit sei oder bloß überbordendes Gefühl, Zuckerguss.

So finden wir das Ich auch in „RÆNDERN“ vor, seinem vierten Lyrikband, erschienen 2020 im Klagenfurter Ritter Verlag. Diesmal ist es hineingeworfen in eine thematische Landschaft aus Natur, ländlichem Idyll, ja Heimat. Keine leichte Aufgabe also für Gedichte und Dichter. Denn alle drei Phänomene sind wie geschaffen dafür, unsere Nostalgie anzukurbeln, historisch verdächtig, Herkunft, diese subjektive Welt, ins Heile zu verklären. Und das ist nur um den Preis brüchiger politischer Korrektheit zu haben.

Erst begegnet uns in „RÆNDERN“ eine Art Bestandsaufnahme von Heimat. Das lyrische Ich sieht genau hin, erinnert Einzelheiten jenes Ortes, es spricht ein Du als unpersönliches Subjekt an. Subjekt und Natur harmonisieren, verschmelzen vorerst regelrecht:

 

„legst deine taufrischen Hände ans Holz

Fichten Lärchen Zirben Ahorn Eschen

in Säumen hier bis an die Felswände genäht“

 

Dieses grammatikalisch als Du getarnte Ich kennt den Ort ‚natürlich‘, nimmt poetisch präzise Kenntnis von seiner Flora und Geografie. Doch die Idyllen tragen bereits ihre Schatten. Es sind bald eine Art Vexierbilder, in die Szalay die ‚schönen Bilder‘ immer wieder kippen lässt, Missstände im unschuldigen Grün, ja verborgene Fallen für das Subjekt:

 

„gehst du in die Wälder braucht es einen Weg

um wieder herauszufinden“

 

In diesen ersten Gedichten poetisiert das lyrische Ich noch das Hier, aus dem es kommt, zugleich zweifelt es an ihm, hegt Überlegungen eines Ausbruchs, Fragen tauchen auf. Konsequent werden Natur und Subjekt aneinander gelegt, um die Entfernung zwischen ihnen zu vermessen. Das oxymoronartige  Komponieren der Bilder nutzt Szalay immer wieder, so erzeugt er Nähe und Distanz(-ierung) zugleich, versetzt die Außen- und Innenwelten in einen unsicheren Zustand:

 

„wie weit fahren Züge von hier wie weit reicht

diese Landschaft an deinem Arm entlang“

 

Von Anfang weg mischt sich auch eine Art diskursive Stimme aus dem Off zwischen die Verse. Kursiv gesetzt entfaltet sie eine empirisierende, zunehmend aufklärerische Wirkung entgegen dem l’art pour l’art‘ des ‚Naturgedichts‘:

 

„Reisig dient als Brennmaterial hat

aber keinen hohen Brennwert“

 

Die Grundstimmung ist vom ersten Langgedicht weg eine befragende, eine das Idyll mitunter brechende. Mit dem titelgebenden Gedicht „RÆNDERN“ nach dem ersten Buchdrittel ändert sich dann die Textsorte. Die Befragung wird in lyrischen Prosaminiaturen fortgesetzt, ihr Duktus wird atemloser, die Bilder in Stakkato gehalten, Füllwörter mischen sich hinein, der poetische Vortrag gerät zunehmend unsicher:

 

„Heimat also, das nanntest du immer die anderen. oder wieviele

Schritte, denkst du, trägt das – zwischen Schilf gespanntes Eis.

wo beginnt das also, dieses Nachhören in die Nächte. sag, wo

beginnt das. wo also sind die Stellen, an denen Motorenlärm

die Stille schneidet, an denen deine Stimme verloren geht, es

Briefe benötigt, um erzählen zu können.“

 

Ein inhaltlich und formal noch deutlicherer Umschwung steht einem dann ab Bandmitte bevor. Er wird eingeleitet mit dem Gedicht „Prelude“.  Dort heißt es:

 

„Prelude

 

beim Einschlag der Schwalben im Dachfirst

denkst du an Dresden“

 

Heimat wird nun symbolisch angegriffen, mit verschiedenen Stilmitteln demontiert. Den historischen Bezugspunkt WK 2 nutzt Szalay als Startschuss, ab da rückt Kulturkritik in den Mittelpunkt der folgenden Gedichte, „schreibst was vom dunkelsten Himmel Deutschlands“. Die lyrischen Texte nehmen mehr und mehr Intertext auf, referenzieren auf verschiedene nationalistische Brennpunkte aus der jüngeren Geschichte, etwa den Gaucho-Gesang in der deutschen Nationalelf bei der Fußball-WM 2014[1]:

 

„plus dreiundzwanzig Grad und unter dir zieht Deutschland

vorbei immer noch golden immer noch glänzend immer noch

Sommermärchen so gehn die Gauchos, die Gauchos die

gehn so und so gehn die Deutschn, die Deutschn die gehn

so also Nachdenken über Rollen und Richtungen alles was

du Wegbiegung nennst Flussverlauf Vaterland Erinnerung

sleepwalking 5:47 a.m. draußen noch Nacht bist müde geworden“

 

Der inhaltliche und stilistische Übergang zieht sich über ein paar Seiten. Ab dem Text „HEIMAT (Fade-out)“ begegnet uns dann geballt mehrstimmiges, de-konstruierendes Material. Szalay vermischt in Montagen Handschriftliches, Melodien auf Notenzeilen oder grafische Kritzeleien. In Streitschriftmanier sind sie auf Kontroverse aus, orchestral und mehrsprachig tönend, dann auch wieder leger, sie verpassen sich ein wenig Glamour, wenn Pop-Verse eingezogen sind, „OH, LOOK AT ME, ENTANGLED, zitterndes Gebüsch“. Mit solchen lyrischen, diskursiven und popkulturellen Versatzstücken wird die ‚Heimat‘ weiter besungen, vermisst, entlarvt und abgestreift zugleich. Die Gedichte legen sich dabei nicht fest, das tun sie von Anfang an nicht. Sie transportieren vielmehr eine Haltung, öffnen Zugänge für ein mehrschichtiges Verständnis der eigenen Beziehung zu und Bedeutung von jenem ersten Ort:

 

Heimat – ist das Land oder auch nur der Landstrich, in dem

man geboren oder auch nur bleibenden Aufenthalt, der

Geburtsort oder ständige Wohnort, selbst das elterliche Haus,

der Himmel

the velocity of the spinning vinyl, cross-faded,

und vögel flogen nach diesen und jenen richtungen

wie nach verschiedenen heimathen.”

 

Szalay hat sich in „RÆNDERN“ eine poetisch und poetologisch fordernde Aufgabe vorgenommen. Er versucht, einen subjektiv beladenen Gegenstand  – jede/-r kommt irgendwo her und verbindet Erinnerungen, Gefühle damit – der zugleich stets Politikum ist, mit Poesie neu zu befragen, zu erhellen. Empfinden und Erkennen, Sinnlichkeit und Ratio, die zwei wichtigen humanen Speicher im Gedicht, sind dafür in einer austarierten Dosis zu anzubieten. Ansonsten kippt für die Leser/-innen an einem Punkt jedenfalls die Sicherheit, welche hier Textsorte vorliegt. Im politischen Gedicht ist dieses Verhältnis noch einmal anders gelagert, unter Umständen weniger emphatisch, dennoch auszutarieren.

Und der Text bemüht sich. Zugleich spielt Szalay mit obigen Erwartungen. Er ist als Entwurf bislang einmalig, an Stellen intensiv poetisch, dann wieder essayistisch und manchmal möchte man gerne, dass er sich stärker entscheidet und versteht doch, warum man das in „RÆNDERN“ nicht bekommen wird. Das zeitgenössische Gedicht ‚nach Ausschwitz‘[2] bietet Anlass und Mittel genug, lyrisches Schwärmen nicht vorbehaltlos vorzutragen. Dazu weiß es zu viel, über sich selbst, über seine gesellschaftlichen Kontexte. In dieser Tradition knüpft Szalays Text eindrucksvoll an und geht kühn einige Schritte weiter. Wir finden in „RÆNDERN“ neue Antworten zur Verfasstheit des Dichtens über ‚Heimat‘, aber vor allem viele fragende Annäherungen. Wir stoßen auf Grenzen, auf Ränder, im lyrischen Sprechen darüber, hin zum theoretischen und zum diskursiv-politischen Debattieren. Zugleich trägt Szalays „RÆNDERN“ an Stellen noch etwas von einer Ode in sich, bewahrt zumindest ein Gefühl davon. Dann bleiben einem beim Lesen, wo immer man mit diesem großartigen Band einschläft,

 

„überm Bett noch die Sehnsüchte deiner Kindheit“

[1] https://www.welt.de/sport/fussball/wm-2014/article130215880/Die-Wahrheit-ueber-den-Gaucho-Gesang.html

 

[2] Adorno, Theodor (1977). Kulturkritik und Gesellschaft. In: Gesammelte Schriften, Band 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I, „Prismen. Ohne Leitbild“. Suhrkamp, Frankfurt am Main.

Christoph Szalay. RÆNDERN (Ritter Verlag) 2020, 100 Seiten, 13,9 €

Ingo Cesaro - Sehnsucht nach Stille
Rezension von Amadé Esperer

Sehnsucht nach Stille. Eine lyrische „Sophien-Passion“ von Ingo Cesaro

Amadé Esperer. © A. Esperer – Ariel-Art (APRIL) 22.04.2021[1]

Nun liegt mit dem Lyrikband Sehnsucht nach Stille endlich auch eine nicht nur angemessene, sondern auch sehr gelungene lyrische Würdigung von Sophie Scholl und der „Weißen Rose“ vor. Mit dem ansprechend gestalteten Gedichtband, herausgegeben Ende Februar 2021 von Rüdiger Jung und erschienen bei Freipresse Bludenz[2], hat Ingo Cesaro der Widerstandskämpferin ein eindrucksvolles literarisches Denkmal gesetzt. In 43 Gedichten, von denen 42 in Haiku-Form gestaltet sind, wird wie in einer Passion die Leidensgeschichte von Sophie Scholl nachgezeichnet. Das Buch erscheint nun gerade rechtzeitig zum 100. Geburtstag der Widerstandskämpferin, die am 9. Mai 1921 als Sophie Magdalena Scholl in Forchtenberg in ein christlich geprägtes Elternhaus hineingeboren wurde und sich 1941, nach intensiver Beschäftigung mit Augustinus, als Studentin der Philosophie und Biologie der von ihrem Bruder Hans Scholl mitgegründeten Widerstandsbewegung „Die Weiße Rose“ anschloss.

Im Sommer 1942 und zu Beginn des Jahres 1943 verbreitete die „Weiße Rose“ in München und im gesamten süddeutschen Raum sowie in Köln, Berlin, aber auch in Linz, Salzburg und Wien Flugblätter gegen Hitler und das nationalsozialistische Regime. Die Medizinstudenten Hans Scholl und Alexander Schmorell bildeten den Kern dieser Gruppe. Christoph Probst, Sophie Scholl, Willi Graf und ihr Mentor, Professor Kurt Huber, schlossen sich ihnen nach und nach an[3]. Die Flugblätter der „Weißen Rose“ waren mehr als nur ein Aufstand des Gewissens. Sie waren politisch hoch motiviert und entstanden aus der Überzeugung heraus, dass man nicht mehr schweigend zuschauen dürfe, sondern in den Generalstreik gegen das verbrecherische System treten müsse. Über Helmuth James Graf von Moltke, einem Widerstandskämpfer des Kreisauer Kreises, gelangten Flugblätter sogar nach Großbritannien und wurden 1943 in einer BBC-Sendung verlesen und von britischen Flugzeugen über Deutschland abgeworfen[4].

Der 18. Februar 1943 wurde der „Weißen Rose“ allerdings zum Verhängnis. An diesem Tag verteilten Sophie und Hans Scholl 1700 Exemplare des sechsten Flugblatts der „Weißen Rose“ im Lichthof der Münchner Universität, nachdem sie vorher schon 1000 Exemplare an Studenten verschickt hatten. Darin riefen sie wiederum zum Kampf gegen die NSDAP und den Austritt aus den Parteigliederungen auf. Unter anderem war darin zu lesen:

Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht, rächt und sühnt zugleich, ihre Peiniger zerschmettert und ein neues geistiges Europa aufrichtet[5].

Bei dieser Lichthofaktion wurden Sophie und Hans Scholl von dem Hörsaaldiener Schmid, einem SA-Mann und NSDAP-Mitglied[6], entdeckt und an die Geheime Staatspolizei verraten[7]. In einer Nacht- und Nebel-Aktion wurden sie von der Gestapo verhört, verurteilt und bereits am 22. Februar 1943 mit dem Fallbeil in Stadelheim hingerichtet. Auch zahlreiche Unterstützer der „Weißen Rose“ und Mitwisser wurden in der Folge mit dem Tode oder mit Freiheitsentzug bestraft. Der Pedell Schmid erhielt für seinen Verrat zwar keine dreißig Silberlinge, aber 3.000 Reichsmark und wurde vom Arbeiter zum Angestellten befördert[8].

Sophie Scholl war 21 Jahre alt, als sie hingerichtet wurde. Der Henker, so führt Cesaro in einem bewegenden Vorwort aus, habe von den über 3000 Delinquenten seiner Laufbahn niemanden je gesehen, der den Weg zum Fallbeil so gefasst gegangen ist wie Sophie Scholl.

Beim Lesen von Cesaros Gedichtband, der auch „Sophien-Passion“ heißen könnte, fühlt man sich an die Matthäus- oder Johannespassion von Bach erinnert: Von der Vorgeschichte, vom Verrat bis zum Verhör und schließlich der Hinrichtung wird berichtet. Nur dass diese Leidensgeschichte nicht in Musik, sondern in Gedichten gesetzt ist. Dass Cesaro hierfür als Gedichtform das Haiku verwendet hat, scheint zunächst verblüffend, gilt diese im japanischen Kulturkreis entwickelte, altehrwürdige Form doch traditionell eher als naturbezogene Dichtung, in der ein Gedankenblitz, oft ausgelöst durch einen Natureindruck dargestellt wird[9]. Eingang in die moderne westliche Dichtung hat das Haiku relativ spät durch Ezra Pound und William B. Yeats gefunden[10], ist heute aber auch in der deutschen Dichtung weit verbreitet und findet sich, sowohl formal als auch inhaltlich zum Senryu weiterentwickelt, in zahlreichen Anthologien, leider allzu oft auf trivialem Niveau. Die Haiku- bzw. Senryu-Kunst, richtig angewandt, kann aber auch heute noch immer ein ausdrucksstarkes Genre sein.

Ich glaube, gerade weil diese kürzeste aller Gedichtformen für meditatives Nachdenken so geeignet ist, weil sie den Leser dadurch, dass sie nur andeutet und nichts voll ausspricht, weil sie dazu anhält, das Angetippte weiterzudenken, weil sie trotz ihrer Kürze dieses retardierende Moment des Überlegens, des Weiterdenkens entzünden kann, hat Cesaro auf diese Gedichtform zurückgegriffen, um das schwierige Thema adäquat lyrisch fassen zu können. Über 40 Jahre lang hatte sich der Autor, wie er in dem Vorwort bekennt, mit dem Gedanken getragen, Gedichte über Sophie Scholl zu schreiben, bis ihm klar wurde, dass er diese tapfere Widerstandskämpferin am besten mittels Haiku würdigen könnte. Sie, die Haiku, ermöglichen einen elegischen, verhaltenen Ton, helfen unangebrachtes Pathos zu vermeiden und sind doch offen für die Schilderung und Erlebbarmachung von großen Gefühlen und dramatischen innerpsychischen Vorgängen:

 

Beim letzten Verhör.

Blick durchs Fenster genießen –

Wolken ballen sich.

 

Dass Cesaro ein moderner Haiku-Meister ist, zeigen schon diese Zeilen, in denen er in klassischer Manier die Naturerscheinung der sich ballenden Wolken mit dem Sachverhalt des letzten Verhörs von Sophie Scholl zusammenbringt. Dabei gelingt es ihm, das Unerträgliche des Verhörs dadurch zu evozieren, dass er in einer Art oxymorontischer Gegenüberstellung der Wörter „Verhör“ und „genießen“ einen starken Kontrast aufbaut. Durch diese Hell-Dunkel-Gegenüberstellung wird dem Leser das Auseinanderklaffen zwischen der brutalen Realität des Verhörs und dem „Genuss“ der Verhörten klar. Beim Lesen dieser Zeilen entsteht die Vorstellung, dass die Gefangene aus einer dunklen Isolationszelle zum Verhör in ein normales Zimmer mit Fenster und Blick auf den Himmel gebracht, nun trotz ihrer unerträglichen Lage froh ist über ein Stückchen Himmel, das durch das Fenster des Verhörraums zu erhaschen ist. Und die geballten Wolken am Himmel dürfen wir getrost als geballte Verachtung gegenüber den verhörenden NS-Schergen lesen.

An anderer Stelle heißt es:

 

Das Leben vor sich.

In wenigen Minuten –

blutiges Ende

 

Hier versetzt uns Cesaro mit wenigen Worten in die Gedanken von Sophie Scholl, wie sie ihr kurz vor ihrer Hinrichtung durch den Kopf gegangen sein könnten: Ihr ganzes Leben spult sich noch einmal vor ihr ab (das Leben vor sich), bevor sie es (in wenigen Minuten) für immer verlassen muss. Dadurch, dass das Haiku ambivalent angelegt ist, lässt es sich auch so lesen, dass Sophie Scholl als Einundzwanzigjährige ihr Leben eigentlich noch vor sich hat, es noch gar nicht richtig gelebt hat, als ihm das Fallbeil abrupt ein Ende setzt. Je weiter man sich lesend durch den Band bewegt, desto nachdenklicher wird man, und desto mehr wird man von der Mehrdeutigkeit der Haiku, die so vieles offen lassen, so vieles nur andeuten und dadurch die Fantasie umso stärker anregen, ergriffen. Dabei kombiniert Cesaro geschickt immer zwei Haiku optisch miteinander, indem er sie auf eine Seite setzt und auf diese Weise miteinander sprechen lässt. So ergeben sich interessante Effekte, wie etwa durch folgendes „Doppel-Haiku“:

 

Gefasst auf dem Weg.

Durch die Sehnsucht nach Stille.

Auch du, Sophie Scholl.

 

Leben gestohlen.

Auch die der „Weißen Rose“ –

blutiges Ende.

 

Hier verknüpft das zweite Haiku Scholls Schicksal mit der „Weißen Rose“ und mit dem Schicksal der anderen Widerstandskämpfer der „Weißen Rose“. Stilistisch wird dies durch das Wort „Leben“ erreicht: Im Deutschen kann das artikellose Wort „Leben“ ja sowohl den Singular als auch den Plural ausdrücken, und hier sind beide gemeint: das Leben von Sophie Scholl und das Leben der Widerstandsgruppe in ihrer Gesamtheit, wie der Artikel „die“ in der zweiten Zeile des zweiten Haiku klar macht.

Wurde in den ersten Zweidritteln des Buches der Leidensweg von Sophie Scholl nachgezeichnet, so würdigt Cesaro im letzten Drittel die Bedeutung des Widerstands von Sophie Scholl und der „Weißen Rose“ für das Ansehen Deutschlands in den Augen der Welt und in den Augen von uns heute Lebenden, die wir das große Glück hatten, nie vor so überwältigende Herausforderungen gestellt worden zu sein, wie es die Widerstandskämpfer in dem barbarischen Unterdrückungssystem der Nationalsozialisten waren. Man merkt Cesaro die Erleichterung und Genugtuung an, dass es den nationalsozialistischen Verbrechern trotz aller Vertuschungsversuche eben nicht gelungen ist, die Geschichte zu verfälschen. Im Gegenteil, die Erinnerung an Sophie Scholl und den Widerstand gegen diese menschenverachtende Ideologie gehört heute zu unserem kulturellen Gedächtnis:

 

Dies hätten sie gern.

Sophie Scholl hingerichtet –

und dann Schwamm drüber.

 

Dieses Blutopfer

damals vertuscht und heute –

ein großes Vorbild.

 

In der Tat, heute können wir als Nachgeborene dieser schwärzesten Zeit in der deutschen Geschichte stolz sein, dass es Menschen wie Sophie Scholl gab, denen ihr christliches Gewissen mehr bedeutete, als sich in schweigender Anpassung einer verbrecherischen Staatsmacht zu fügen. In der Tat dürfen wir dankbar sein, dass es auch im Nationalsozialismus mutige Frauen und Männer gab, die Leib und Leben für die Werte von Freiheit und Menschlichkeit gaben wie Georg Elser, Christoph Bernhard, Wilhelm Hackethal, wie Rudolf von Scheliha, Else Himmelheber und Irmgard von Witzleben, wie Graf Schenk von Stauffenberg, Ludwig Beck, Carl Friedrich von Goerdeler, und viele, viele, andere Frauen und Männer des Widerstands.

 

Die Gedichte aus dieser lyrischen „Sophien-Passion“ von Ingo Cesaro sind es nicht nur wert, privat gelesen zu werden, viel mehr eignen sie sich auch für das öffentliches Gedenken, für Lesungen bei Gedenkfeiern für die Opfer des Nationalsozialismus. Bei anderen Nationen gehören Gedichtlesungen schon lange zur Praxis öffentlicher Gedenkveranstaltungen. Auch sollten diese Gedichte in den Schul- und Universitätscurricula nicht fehlen:

 

In jedem Schulbuch –

über die „Weiße Rose“

sollte alles stehen.

 

Unsere Jugend

muss die Geschichte kennen –

der „Weißen Rose“.

 

Unsere Geschichte gut zu kennen, ist wichtig, sagen uns Cesaros Gedichte. Um gegen künftige Entgleisungen besser gefeit zu sein, tut es not, sich unserer Werte immer bewusst zu sein und uns durch permanente Aufklärung immun zu machen gegen die Abgründe etwa von Fake History, die sich, begünstigt durch die Massenkommunikationsmedien, allenthalben auftun.

Aufklärung und Informiertheit sind der beste Schutz vor dem Verlust unserer demokratischen Werte, von denen der wichtigste die freie Rede ist. Aufgeklärte Informiertheit ist das Gebot unserer Zeit, vor allem auch angesichts heraufziehender Woke-Wolken[11] aus unerwarteter Richtung, die ihre Schatten nicht nur über Deutschland, nicht nur über Europa, sondern über das gesamte Abendland, die Geburtsstätte von Logos und Aufklärung, von Demokratie und Wissenschaft, werfen. Achtsamkeit ist nötig und unsere Lektionen, die wir aus der Geschichte gelernt haben, parat zu haben, angesichts der unheilvollen Ausdünstungen aus den Sümpfen längst tot geglaubter Ideologien.

Mehr denn je sind wir alle aufgefordert, daran erinnern Cesaros Gedichte, unsere Freiheit, die wir nach den von Nationalsozialismus und Kommunismus verursachten Katastrophen von den Westmächten neu geschenkt bekamen, gegen Unfreiheit, Verdummung und Intoleranz zu schützen. Gerade auch angesichts einer um sich greifenden „Cancel Culture[12][13]“, heute wieder vermehrt Zivilcourage, Kulturcourage[14] , zu zeigen, ist das Gebot unserer Zeit:

 

Zivilcourage –

kein Unterrichtsfach. Heute –

lehrt man Anpassen.

 

Für Demokratie

müssen wir heute kämpfen.

Da hilft uns keiner.

 

 

 

[1] https://ariel-art.com/reviewsgerman

[2] Vertrieb für Deutschland über Ingo Cesaro: www.ingo-cesaro.de

[3] https://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/weisse-rose/60944/widerstand-der-weissen-rose

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Sophie_Scholl;

https://www.gsi.uni-muenchen.de/organisation/institutsgeschichte/weisse_rose/index.html

[5] zitiert nach: https://www.gsi.uni-muenchen.de/organisation/institutsgeschichte/weisse_rose/index.html

[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_Schmid_(Pedell)

[7] https://www.gsi.uni-muenchen.de/organisation/institutsgeschichte/weisse_rose/index.html;

https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_Schmid_(Pedell)

[9] Dietrich Krusche: Essay. Erläuterungen zu einer fremden literarischen Gattung. In: Krusche: Haiku, Japanische Gedichte. dtv, München 1997.

[10] Burdorf D. Einführung in die Gedichtanalyse. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 2015

[11] Schmitz M. The Woke and the Un-Woke. How American politics is fast becoming a religious conflict between a hegemonic new faith and its multifarious foes. Tablet Magazine (September 25) 2020;

Reitzenstein J. Sind diese Frauen auch ausreichend „woke“? Welt, 03.04.2021

[12] Weinstein B. https://www.youtube.com/watch?v=k1YZkAdn3Ls

[13] https://jewishjournal.com/commentary/columnist/327701/was-it-wrong-to-cancel-ariel-pink/

[14] Rosenfeld K. The real problem with cancel culture. Tablet Magazine (October 16) 2019;

Von Buchsteiner J. Wie der Kulturkampf um „Cancel Culture“ England aufwühlt. FAZ, 1.12.2020

 

* Das generische Maskulinum schließt selbstredend alle biologischen Geschlechter (m/w/d) ein.

 

 

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Ingo Cesaro. Sehnsucht nach Stille (FREIPRESSE  Bludenz, Austria bzw. Deutschland: https://www.ingo-cesaro.de)  2021, 49 Seiten, 19,00 € zzgl. Porto

Ana Luísa Amaral - Was ist ein Name
Rezension von Amadé Esperer

Kürzlich erschien bei Hanser der Lyrikband Was ist ein Name? mit Gedichten der 1956 in Lissabon geborenen und derzeit als Komparatistin an der Universität von Porto lehrenden Autorin Anna Louísa Amaral.

In diesem Gedichtband bearbeitet die Autorin in knapp 100 Gedichten ein weites Themenfeld, das von poetologischen Betrachtungen bis zu lebensphilosophischer Meditation, von politischen Reflektionen bis zu persönlichen Einlassungen reicht.

Die Titel mancher Gedichte muten auf den ersten Blick merkwürdig gestelzt an, etwa Existextuelle Definitionen, Grammatiken des Blicks, Das Drama in Person: die andere Stimme. Postmoderner Jargon oder schlechte Übersetzung? Zur Übersetzung lässt sich leider nichts weiter sagen, denn der Band ist unglücklicherweise nur einsprachig angelegt. Ein Manko, denn Lyrik lebt ja vor allem auch vom Klang, von der Musik der Verse. Es bleibt völlig unverständlich, warum den ins Deutsche übertragenen Gedichten nicht die entsprechenden portugiesischen Originalen gegenübergestellt wurden.

Schade, schade!

Aber nun zu der anderen Vermutung. Lauert hinter den Titeln etwa postmodernde Theorie?

Den Eindruck könnte man in der Tat gewinnen, klingt doch mancher Gedichttitel wie ein Kapitel aus einem Handbuch dekonstruktivistischer Lyrik. So etwa Existextuelle Definitionen. Dieses Gedicht ist, nach seiner Strophenordnung zu urteilen – zwei Quartette werden gefolgt von zwei Terzetten – offenbar als Sonett intendiert. Über das Reimschema lässt sich aber nichts sagen, es bleibt unklar, ob im portugiesischen Original Endreime angelegt waren oder nicht. Eine klärende editorische Notiz zur Übersetzung findet sich leider auch nicht in dem Band. Nochmals: Schade. Der Leser* wird so zum reinen Lyrik-Konsumenten herabgewürdigt: Lies oder lass es! Es bleibt ein Rätsel, warum in diesem Buch lediglich bei vier Gedichten jeweils die portugiesische zusammen mit der deutschen Version präsentiert werden.

Wie auch immer. Inhaltlich ist das Gedicht Existextuelle Definitionen eine Reflexion über Portugal und berührt in seiner hinterfragenden Gestik die fundamentale Frage jedweder Kultur, jedweder Kulturnation: Identität beibehalten oder aufgeben? So stellt das Gedicht in den ersten neun Versen beunruhigende Fragen, die die kulturelle Gegenwart des Landes Portugal berühren:

 

Doch was bedeutet es, portugiesisch zu sein?

Worin besteht unsere Besonderheit?

In der Randständigkeit unseres Rechtecks?

Als Nervenzelle, die sich am Meer auflöst?

 

Ist es ein Staat wie ein Geisteszustand?

Ein Stadium der Gene oder des Volks?

Und noch immer ist Hass auf Kastilien

das süße Wasser, das von den Hängen rauscht?

 

mit einem Raunen, so süß und nuklear?

 

Die abschließenden fünf Verszeilen geben darauf keine Antworten, sondern stellen weitere Fragen:

 

Heißt es sich in saturnische Launen stützen

Oder in Klagelieder zu verfallen?

 

Ist es die Sehnsucht nach dem alten Feuer,

die die Sanftheit der Bräuche bewahren?

Oder auf einen Vers gebracht: aufgeben?

 

Das Gedicht lässt also alles in der Schwebe und überlässt es dem Leser* die Antworten selbst zu finden. Diese ambivalenten Antworten auf die ebenfalls uneindeutig gestellten Fragen scheinen den Titel des Gedichts zu erklären. Er definiert das Problemfeld als „existextuelle“ Definitionen, also als ein textliches Unterfangen, als Gedankenspiel. Damit hält sich die Autorin alle möglichen Interpretationen offen, legt sich auf kein endgültiges Statement fest, und man gewinnt den Eindruck, sie deute in dem Gedicht bestimmte Sprachspiele an, die sie bei der Definition dessen, was es bedeutet, portugiesisch zu sein, am Werk sieht. Insofern bewegt sie sich durchaus in der postmodernen Gedankenwelt, die der Sprache ja eine zentrale Rolle bei der Wirklichkeitsgestaltung zuweist.

Auch andere Gedichte exerzieren postmoderne Anschauungen durch. So etwa das wie eine Kapitelüberschrift aus einem Handbuch postmoderner Theorie anmutende Gedicht Grammatik des Blickes. Dieser Titel thront auf dem Gedicht als nicht zu übersehender Verweis auf den dekonstruktivistischen Großmeister Derrida. Im weiteren Text kommt das Poem mit einer gewissen ideologischen Zeigefinger-Gestik daher. Vor allem die letzte Strophe erinnert unangenehm an die moralisierende Theatralik bestimmter Brecht-Gedichte.

 

Blicke wechseln: schnell getan

(Die andere Aufgabe:

Die grammatikalischte

Form des Liebens)

 

Auch sprachlich leidet das Gedicht, zumindest in der deutschen Version. Was bitte schön trägt die merkwürdige Superlativierung des Adjektivs grammatikalisch zu „grammatikalischte“ bei. Man fühlt sich an die unsinnigen Superlativ-Konstruktionen in Ausdrücken wie „in keinster Weise“ oder „optimalst“ erinnert. Solche Ausdrücke ergeben logisch keinen Sinn, zeugen allenfalls von schludrigem Umgang mit der Sprache. O tempora o mores! möchte man ausrufen. Doch man beherrscht sich und geht zu den nächsten Gedichten über. Und findet endlich ein poetisch attraktives, in das man augenblicklich versinkt:

 

Zugefügte Schmerzen

Es gibt Momente, da tut es mir gut

mich schlecht zu fühlen:

da eröffnet sich eine riesige Zeit

um Dinge zu erinnern, die wehtun

Es ist das Behagen am Unbehagen,

für eine Stunde an Leidenschaften kranken,

und in der nächsten wieder die Arbeit voranbringen,

so wie man ein Essen verschiebt,

die Uhr vorstellt, den Tod

 

Doch es ist eine höhere Stunde

von Schrecken und Trauer:

mich aus Liebe verspäten

 

Hier hat man endlich einmal das Gefühl, auf empirisch beglaubigtem Grund zu stehen und die Autorin authentisch sprechen zu hören. Hier lässt sie den Leser*, mit intensiver Bildlichkeit überzeugend, an menschlicher Wahrheit teilhaben. Hier glaubt man fast, in ein Gedicht von Thomas Tranströmer entführt worden zu sein. Hier lässt die Autorin jede Form von ideologischer Plattenbaulyrik hinter sich und berührt uns unmittelbar. Dasselbe gilt für viele weitere, in diesem Band versammelte Gedichte, die mit Liebe, Abschied und Trauer zu tun haben. So auch für das Gedicht Fragen:

 

Die Nachbarin aus dem Haus nebenan,

die bei einem Unfall ihr Kind verlor,

grüßt mich immer, wenn sie mir morgens begegnet

mit einem Lächeln

[…]

Aber was für einen Krieg spürt sie innerlich

genau dann, wenn sie die Augen aufschlägt

und an ihr Kind denken muss, dort

auf dem Friedhof dort hinter der Kirche

neben dem Park,

das ihr nie wieder sagen wird,

„Guten Morgen, Mutter“?

 

Auch das zurückblickende Liebesgedicht Alte leuchtende Dinge ist eines der poetisch überzeugenden Gedichte, bei denen die Autorin Ironie und Empirie glücklich zu kombinieren versteht:

 

Jene Liebe mit dem schönen Namen;

Wie lange ist es her?

Das Leben glatt wie Eis,

und jener Geliebte mit dem schönen Namen

aus den Ferien, blieb im Licht verschwunden

mehr als zwanzig Jahre lang

 

Einmal gab er mir die Hand

und vor dem Schlafen einen samtenen Kuss

 in der Pension. Doch sein Name war schön,

er redete über Filme und trug Blau

und diesen zierlichen Schnurrbart

 

[…]

 

Seine Briefe zerriss ich

vor fünfzehn Jahren, an einem Tag von Schubladen

und Licht, kein Bild blieb übrig

vom Durcheinander. Aber sein Name war schön,

er redete über Filme und trug Blau,

und kam glühend wie Eis über mich

vor dem Schlafen

 

[…]        

 

Auch in dem Gedicht Blitzschnelle grafologische Notiz entfaltet das Gedicht jenen Witz, jene feine Ironie, die dem Leser* Vergnügen bereitet. Es kann sich durchaus messen mit der Tonalität mancher Gedichte von von Wisława Szymborska:

 

Sogar deine Handschrift stört mich:

Deine ganz besondere Art

zu schreiben,

der Druck an bestimmten Stellen:

hier eine sichere Hand, dort unsichere Gedanken

und dann schroffe Pausen.

 

Denk nicht ich sei beeidigte Grafologin,

die deine Anschläge prüft

[…]

Habe bloß den Eifer einer Liebenden

und jene kindliche Scham:

Mich verlegen zu fühlen

und nackt

angesichts deiner Schrift.

 

Dagegen wirkt das Gedicht Schlagzeilen, das sich auch als Liebeslyrik lesen lässt, trotz aller Ironie ein bisschen zu verkopft, zu akademisch gewollt, um restlos zu überzeugen. Da nützt es auch nicht, per Namedropping einen berühmten englischen „metaphysical poet“ aufzurufen:

 

Du wirst nicht kommen, nur weil ich dich im Gedicht

gebeten habe zu kommen,

kommst auch nicht, ich weiß, selbst wenn heute Sonntag ist

Gekommen aber ist die Katze,

blieb lange zu meinen Füßen und auf dem Federbett

Wäre dies ein Gedicht von John Donne ließe sich anderes sagen

und die Katze und das mit der Decke wäre metaphorisch,

aber so ist es hier nicht,

und ich denke gerade nicht an metaphysische Zeiten

[…]

 

In nicht wenigen Gedichten gibt sich die Autorin auch als feministische Lyrikerin zu erkennen. So stellt sie sich mit „Meine Frau von was“ expressis verbis in die Reihe der portugiesischen „Frauenlyrik“, spielt doch schon der Titel (Portugiesisch Minha Senhora de Quê) überdeutlich auf den Lyrikband Minha Senhora de Mim (Meine Frau von mir) an, den die prominente feministische Autorin Maria Teresa Horta 1971 herausgebracht hat. Im Gedicht von Amaral klingt neben Gesellschafts- auch Sprachkritik an:

 

nicht einmal meiner selbst Herrin bin ich

wenn vertauschte Satzgefüge

in den meisten Fällen nicht einmal Absicht

wenn Sinnebenen vielfach         verborgen

nicht einmal aus dem Verborgenen stammen

(Poetik des Hades, schön wär’s!)

 

Frau von gar nichts         nicht einmal Besitzerin

meiner selbst: Imitationen der Angst

mein Inferno

 

Auch in weiteren Gedichten trägt die Autorin dem feministischen Zeitgeist Rechnung, wenn gleich nicht mit derselben dekonstruktionistischen Verve wie in anderen Gedichten.  Trotz aller postmoderner Sperenzchen gelingen der außerordentlich kreativen Dichterin immer wieder unmittelbar berührende Gedichte von großer Schönheit, die das Parfum von Zeitlosigkeit verströmen.

 

 

* Das generische Maskulinum schließt selbstredend alle biologischen Geschlechter (m/w/d) ein.

Was ist ein Name

Ana Luísa Amaral. Was ist ein Name (Hanser, Edition Lyrik Kabinett) 2021, 110 Seiten,  20, – €

Udo Kawasser - die blaue reise. donau-bosporus
Rezension von Reinhard Lechner

Jenes inwendige Sprechen ist es, das uns verbindet mit denen, die wir lieben, noch bevor wir seine Grammatik verstehen können, führen wir unablässig dieses Zwiegespräch.  Mit den Bewegungen eines Stroms kartografiert Udo Kawasser in „die blaue reise. donau – bosporus“, seinem vierten Lyrikband ein solches Zwiegespräch. Ein getrenntes Paar, die Entfernung zwischen den beiden Städten Wien und Istanbul, ihre inneren Landschaften, sie öffnen sich und werden mal, mal nicht überbrückt, so wie die äußeren Geografien, ihre beiden Kulturen, und vor allem ihre Sprachen, das Deutsche und das Türkische. Die Leserinnen und Leser werden von dem Strom mitgezogen.

Diese neuen (Liebes-)gedichte Kawassers lesen sich als ein fortlaufender stream of consciousness, umgesetzt mit zeitgenössichen Form- und Stilmitteln. Consciousness, Bewusstsein, vermag bei Kawasser sogar noch mehr in die Tiefe vermessen zu werden, hinab in ein Vor- und ein Unbewusstes der Liebenden. Man kann den beiden regelrecht mit jedem Vers zuhören, wie sie aus ihren Tagträumen zueinander sprechen, aus der Ferne der Städte ihre Träume teilen. Immer wieder taucht in kursiv gesetzt direkte Rede von einem der beiden auf – Gesagtes, Erinnertes, Verinnerlichtes: „(…) das leben/besteht aus lauter vergesslichkeiten/oder sagtest du die häfen am anfang/unserer geschichte werden unsere teiche sein“.

Mit solchen Ich-, Du- und Wir- Aussagen wird im Band ein poetisches Verhör darum betrieben, aus den zwei Sprachen, dem Deutschen, dem Türkischen, die eine gemeinsame zu beweisen, die Gedichte leisten Suchbewegungen um eine Grammatik der Liebe. Dennoch bleiben die Empfindungen und Erkenntnisse konkret und präzise, das tut gut beim Lesen: diese Lyrik mäandert nicht, ufert nicht aus, viel ist über die Liebe bereits geschrieben worden, sie bahnt sich wie Wasser den kürzesten poetischen Weg aus dem, was sie in und um die Liebenden findet:

 

„konstantinopel klingt wahrscheinlicher

schreibst du heute bin eine anzeige

mit flug zimmer und vollpension

am morgen ist es immer schwieriger

ohne dich denn man kann beim lesen

einschlafen aber nicht lesend erwachen“

 

Egal an welcher Stelle man den Band aufschlägt, man fühlt sich, man habe eben etwas Dickicht zur Seite geschoben und da stünde man wieder, an jenem großen Strom, wie wir ihn alle immer wieder suchen und finden, und suchen. Unaufhörliche Bewegung und ihr Benennen, es ist ein zentrales Thema: die Gefühle zwischen zwei Menschen, das sich verlieren und finden zwischen den Sprachen. Manchmal spielt der Autor mit den Klischees, um geschichtsträchtige Luft aus den Versen zu lassen, die Gefahr von Kultur(-dichotomie) zu bannen, die Gedichte sind Liebesbriefe:

 

„türkenfeld

ich stehe zwischen türken

kannst du mich hören

hier aus den feldern

(…)

unter wievielen schalen

kann ich dich finden

wieviele türken muss ich

essen um so zu sprechen

wie du jetzt“

 

Und an anderer Stelle heißt es:

 

„wir lernten früh

bei so vielen kopftüchern & röcken

bleiben die fenster geschlossen“

 

Zugleich ist stets ein Bemühen um Verständigung präsent, das lyrische Ich will die Gründe und den Aufbau der Gefühle festhalten, weil sie echt sind, es sehnt sich nach Worten für den anderen, füreinander, will sprechen lernen von „unterstrichenen momenten/die wir nicht verstehen/wie lange wird es dauern/ihre bedeutung zu finden/wieviele österreichische/wieviele türkische minuten“.

Kawassers Bildersprache ist eine, die Raum öffnet, um ihn zu überbrücken. In seinen Versen werden die kleinen, verborgenen Dinge mit dem Strom auf die Reise geschickt: „will mit deinen ohrringen/im regen laufen/durch tropfen in denen/wir geschwommen sind“. Aber es sind auch die großen einsilbigen Nomen, auf die der Dichter ohne Scheu, doch bedacht zurückgreift: Fluss, Licht, Lied, Meer, Weg, Wind, Zeit. Gut, sie sind allgemeiner, mitunter weniger greifbar, doch damit wichtig in ihrer Schutzfunktion, zu bewahren. Weil sie unvergänglich sind, anders als die Körper der Liebenden, ihre Berührungen, die flüchtig sind, unerreichbar aus der Ferne:

 

„wollte ein ende finden

für unsere geschichte deine hand

halten aber ich erzähle nicht

erzählen heißt immer einen punkt

machen“

 

Es sind damit die inhaltlich durchaus bekannten Themen, mit denen Kawasser seine Liebesgedichte komponiert – Nähe und Distanz, Sehnsucht (nach einer Sprache), das Unbenennbare. Seine Lyrik gewinnt ihnen unverbrauchte, dabei immer sinnliche Bilder ab, selbst wenn sie Syntax lehrt: „habe ich oder bin ich von dir/gesprochen weißt du etwas/von diesem unterschied könnte/damit unsere grammatik beginnen“.

Enjambements nutzt Kawasser gekonnt um die Wirkung, das Gesagte über den Text hinaus erfahrbar zu machen. Mittels der Zäsuren fließen die meist freien Verse, Kawasser setzt sie dort, wo die Bedeutungen nicht ins Hermetische abgleiten, sondern offen bleiben, sich vermehren können:

 

„(…) aber du zeigst mir

keinen himmel damit ich den weg

 

alleine finde das vergessen

des bewusstseins braucht ein anderes

vielleicht haben wir uns nie

siehst du – schon zerfallen

die sätze werden weggeweht

schreiben sich anderswo fort“

 

Strophenformen werden manchmal verwendet, wenn sich einzelne Gedichte thematisch in die Breite öffnen, gerne sind es dann Vier- und Sechszeiler, sie bilden ruhige Strombewegungen ab. Andere Gedichte arten in Stromschnellen aus, zeichnen hektische Bewegungen, charakterisiert durch viele Umbrüche:

 

„unsere wellen

eigenschaften die beugungssssseffekte

an den herzrändern

schnitt

in die wachsssssende

unschärfe unserer lichtkörper

die lenden streuen“

 

Das Zerpflücken von Bildern und Silben im zeitgenössischen Gedicht kann beim Lesen anstrengen, so sehr das Stilmittel einleuchtet, wenn es dem Inhalt formal und klanglich auf den Grund geht. Kawasser bedient sich ihm hier passend, stellt wie im Experimentierlabor die physikalischen Gesetzmäßigkeiten der Liebe nach, trennt säuberlich die blubbernden Flüssigkeiten. An anderer Stelle wieder ist er neugieriger Schüler ‚im Trockenen‘, wissbegierig um Theorie, um die Anfänge, wenn er schreibt „wie ist das mit dem licht und der liebe/bist du eine welle oder ein teilchen“.

Auch literaturhistorische Verweise stecken in einzelnen Gedichten, etwa auf Bachmanns Liebesgedicht ‚nach ’45‘ „Erklär mir, Liebe“[1] – in Anlehnung fordert Kawasser, „erklär mir/wien den regen/unter den dächern und in den gesichtern“. Bereits im Gedicht davor wird auf Bachmanns Ton in „Entfremdung“[2] referenziert, wo es heißt, „Ich bin satt vor der Zeit/und hungere nach ihr“; Kawasser schreibt, „du könnest manchmal den sonnenaufgang riechen/ich aber bin gelb von der zeit/und so vielen uneingestandenen blicken“.

Man nimmt die Gedichte in „die blaue reise“ immer wieder her, auch weil der erfrischende Einband optisch und haptisch ein Erlebnis ist. Kawassers Verse hallen nach in einem, sie bergen die tiefen Gründe unseres Zusammenseins in ihrer kleinteiligen, uns bekannten Welt. Wir stellen die Fragen nach uns neu mit ihnen, wir lernen weiter, „du schreibst beim blick in die klasse habe/ich mich in deinen locken/verfangen wie soll ich mich halten/an deinen satz die tage bestehen/aus lauter gelegenheiten zur liebe“.

 

[1] Ingeborg Bachmann. Sämtliche Gedichte. Piper Verlag, 2003, 240 S.

[2] Ebd..

Udo Kawasser. die blaue reise (Limbus Lyrik) 2020, 95 Seiten,  15, – €

Rebecca Heinrich - Nackte Gedichte
Rezension von Stefan Hölscher

Der im Dezember 2020 im Verlag Edition BAES erschienene zweite Lyrikband der Tiroler Autorin Rebecca Heinrich nackte gedichte versammelt Liebesgedichte der Autorin aus den Jahren 2014–2020. Die Texte sprechen von Liebe, Liebeskummer, Träumen, Begegnen und Träumen des Begegnens in einer durch und durch weiblich geprägten Welt. Ansprechend und liebevoll gestaltet wurde der Band vom Künstler*innenkollektiv „dreiundzwanzigminuseins“, zu dem die Autorin selbst sowie die Grafiker- und Designerinnen Julia Kössler und Martina Frötscher gehören.

 

Untergliedert ist der Band in fünf Abschnitte, deren Titel durchaus sprechend sind für das, was sich auf den darauffolgenden Seiten näher entfaltet: „entferne mich in deinem hall“, „sei du mir meine erste jahreszeit“, „die königin fließt zu mir“, „wir liefen vorm laufen davon“ und „meine heimat, dein text“. In der Länge reichen die Texte vom fast aphoristischen Zweizeiler bis hin zum vierseitenlangen Poem. Die kurzen Texte fand ich dabei zumeist stärker als die längeren:

 

meiner braut

 

nur die ersten rosenknospen,

nur die erste magnolienblüte,

nur der erste augusttau

und mein letztes erblühen.

 

im sommer IV

 

ich habe mich in dich verlacht.

ich habe mich in dich verblickt.

ich habe mich in dich verhört.

ich habe mich in dich verspürt.

ich habe mich in dich verküsst.

 

aber was am meisten auffällt,

ich habe mich in dich verschrieben.

 

Bildwelt, Wortgestalt und Topos finden in solchen Texten mit einfachen Mitteln poetisch zusammen. Manche der längeren Texte kommen demgegenüber deutlich forcierter daher. Sie wollen mehr und erreichen dabei zum Teil weniger:

 

in der ferne kein hall mehr

wenn die tannennadeln über den himmel streichen, streichen

und der regen auf meinen lungen pocht, pocht

und sich die atemzüge durch den wald quälen, quälen,

dann denk ich an deine ferne, ferne,

entferne mich in deinem hall, hall,

 

wenn der wein wird immer schwerer, schwerer

und der wind die wipfel zum biegen verführt, verführt

und meine hand am donnerhall festhält, festhält,

(weil es doch auch am main gewitter gibt),

dann denk ich an deine ferne, ferne,

 

weil auf meiner haut das echo versiegt.

 

Weniger „Hall“, weniger Wortwiederholung hätte hier möglicherweise mehr Echo beim Lesenden hervorrufen können. Vielleicht machen die durchaus zum Teil plakativen Stilmittel der Autorin manchen Lesenden den Zugang aber auch leichter und fließender:

 

das war es

 

als du und ich unsere hände hielten,

wir hatten ein einzelbett für uns zu zweit,

die wände, sie stürzten ein, sie wimmerten,

bebten, ächzten, der staub auf unseren haaren,

die trümmer über unseren köpfen, es krachte

und nichts blieb uns übrig. seichte wunden,

überall die angst vor tiefschlag, ein

magengeschwür, grün, sich ausbreitend.

und in der mitte, staubig blau,

diese blume, diese unbeirrbare,

diese poesie von unten, diese

einzige liebe, die wir mitnahmen

 

Das Beben im Einzelbett, das Stürzen und Trümmern, das Krachen und (Zer-) Schlagen, das sich ausbreitende Magengeschwür und die blaue Blume der Poesie in der Mitte, diese poetische Drastik mag für die einen genau richtig und für die anderen einfach schon etwas zu viel sein. Sagen lässt sich aber sicherlich, dass die in nackte gedichte versammelten Texte und Illustrationen ganz unverstellt selbstbewusst und liebesgewiss in ihrer queeren Empfindungswelt sind. Und damit auch die Sinne ihrer Leser und Leserinnen gewinnen können.

Rebecca Heinrich. Nackte Gedichte (Edition Baes) 2020, 68 Seiten,  € 19,50

Marco Kerler - Ehinger Tor Utopien - Abfahrtszeiten
Rezension von Amadé Esperer

In dem bei Rodneys Underground Press (RUP) aktuell erschienenen Gedichtband von Marco Kerler sind zwei Gedichtzyklen auf originelle Weise so mit einander kombiniert, dass man noch bevor man das Buch überhaupt aufschlägt, entscheiden kann, mit welchem Zyklus man die Lektüre beginnen möchte. Man muss den Lyrikband nur 180° um die Querachse drehen und kann entweder mit Abfahrtszeiten oder Ehinger Tor Utopien zu lesen beginnen. Die beiden Zyklen begegnen sich ungefähr in der Mitte des Buches. Will man nun von einem zum anderen Zyklus weiterlesen, muss man das Bändchen wieder um die Querachse drehen, und los geht’s. Die beiden Zyklen unterscheiden sich äußerlich nur darin, dass jedes Gedicht der Ehinger Tor-Sequenz jeweils von einem Sofortbildchen begleitet wird.

Aus Neugierde begann ich meine Lektüre mit dem bebilderten Zyklus, also mit den Ehinger Tor Utopien. Dieser Zyklus besteht aus 17 Variationen zum Thema Ehinger Tor, zwei vorgeschalteten SMS-Gedichten und drei nachgeschalteten leeren Seiten, die jeweils mit Ehinger Tor XVIII, XIX und XX betitelt sind, sowie den Gedichten Nachlass und SMS vom 26.06. Die Gedichte sind formlos in freien Versen geschrieben und weisen bis auf die beiden einleitenden und das letzte Gedicht, die ausschließlich in Kleinschreibung gehalten sind, Standard-Klein-und Großschreibung. Damit soll offenbar ein Rahmen erzeugt werden, in dem sich die „Handlungen“ der Ehinger Tor – Gedichte abspielen.

Dieses Ehinger Tor gibt es tatsächlich in Ulm. Es besteht aus wenigen Resten der ehemaligen Festungsanlage Ulms und bildet heute eine zentrale, von hässlichen Bauten der Moderne, gesäumte ÖNV-Haltestelle, an der sich sechs Bus- und zwei Straßenbahnlinien kreuzen.

Das erste eigentliche Ehinger Tor-Gedicht enthält bereits viel von dem motivischen Material, das in den folgenden Gedichten variiert wird, und soll deshalb in Gänze zitiert werden:

 

Ehinger Tor I

 

Die Sonne klettert über das neue Gebäude am Ehinger Tor

Tauben wandern von Essensrest zu Essensrest

Es liegt noch Schnee auf den Dächern der Stadt

Ich kann sein Schmelzen spüren oder wünsche es mir

dann kommt der Bus ich steige ein

und schreibe eine SMS

als wäre der Tag schon einmal passiert

und frag mich was du geantwortet hast

ich hatte dir etwas versprochen

 

Die meisten der nun folgenden Gedichten durchzieht das „Bus“-Motiv wie ein hartnäckiges, die tägliche Routine des zur Arbeit-Fahrens ausdrückendes Ostinato. Geschickt dagegen gesetzt sind wechselnde Motive, wie Sonne, Himmel, Luft, Schnee oder Regen, die als äußerliche Marker anzeigen, dass Zeit trotz aller, vom lyrischen Ich psychisch erlebten Einförmigkeit des Arbeitsalltages, in der physikalischen Wirklichkeit draußen die Zeit vergeht. Ab und zu erscheinen auch Tauben, Taubenschwärme und Taubenkot als Hinweise auf die außerpsychologische Welt. Doch das bewahrt das lyrische Ich nicht vor dem Gefühl der Leere, wie es in dem kurzen Gedicht Ehinger Tor VIII sehr kurz aber eindrucksvoll konstatiert wird:

 

Es passiert nichts

meine Atmung

Busse fahren ein und aus

es passiert nichts

es passiert einfach nichts

 

Die Monotonie der ein- und ausfahrenden Busse wird begleitet von der inneren Monotonie des Atmens. Nur ab und zu scheinen für einen kurzen Moment äußere Vorgänge die vom lyrischen Ich erlebte Monotonie zu unterbrechen, etwa, wenn:

Bretter an Kränen drehen durch

im Wind

strudeln abwärts aufs Dach

das bald gedeckt sein wird

ich träume ein fertiges Haus[1]

 

Vieles nimmt der lyrische Sprecher aber nur flüchtig wahr, als sei es nur ein schattenhaftes Zubehör zur alltäglichen Monotonie, wie etwa Eine Wand mit Graffiti, auf deren Graffiti gar nicht weiter eingegangen wird, oder Ich nehme Menschen wahr an der Bushaltestelle[2], die es offenbar ebenso wenig wert sind wie Gestalten [die herum] lungern[3], näher beschrieben zu werden.

Es ist als induziere die eintönige Hin- und Rückfahrt zur Arbeit, die das lyrische Ich in seiner Arbeitsalltagsroutine als Leere erlebt ein Gefühl von Unwirklichem, von Nichtexistenz. Auch das rätselhafte „du“, das wie etwas nicht Fassbares durch die Gedichte geistert, konkretisiert sich nirgends als ein wirkliches Gegenüber. Es blitzt lediglich kurz im Bewusstsein des lyrischen Akteurs auf und schon ist es wieder weg:

 

mir ist als warst du gerade noch hier (Ehinger Tor VII)

bevor der Bus kommt denk ich an dich (Ehinger Tor X)

ich zittere nach, denn ich glaube dich gesehen zu haben (Ehinger Tor XI)

ein wenig zittre ich nach weil ich glaube die sms käme von dir (Ehinger Tor XII)

 

Das lyrische Ich scheint sich nur noch fiktiv, wie eine Filmfigur zu erleben. Dies drückt Kerler sehr gekonnt in dem etwas längeren Gedicht Ehinger Tor XIII aus, das nicht nur eines der stärksten, sondern auch eine Art Zentralgedicht Gedicht des Zyklus darstellt. Hier gelingt es dem Autor, das Bewusstsein des lyrischen Ichs mit dem fiktiven Du so zu überblenden, dass man nicht weiß, ob es sich wirklich um zwei unterschiedliche Personen, ein Du und ein Ich, oder um ein über sich nachdenkendes einzelnes Ich handelt:

 

Du bist wirklich hier ich rede zu viel

sag dass ich die Klappe halten soll

stell dich auf meine Füße damit das Erde ist

Ehinger Tor ist nicht hier ist Tannhäuser Tor

keine Taube nicht Häuser keine Eclairs

[…]

endlich ist das fiktiv

denn ich frage Ist das fiktiv

du sagst dass ich das nicht geschrieben hätte

ich hörte nie auf zu schreiben

ich schrieb über dieses Gefühl

 

Mit dem Signalwort „Tannhäuser Tor“ spielt Kerler auf eine zentrale Sequenz in dem Kultfilm Blade Runner an, wo der Replikant Roy Batty kurz vor seinem nahen Tod auf dieses Tor zu sprechen kommt:

“I’ve seen things you people wouldn’t believe. Attack ships on fire off the shoulder of Orion. I watched C-beams glitter in the dark near the Tannhauser Gate. All those moments will be lost in time like tears in rain. Time to die.”[4]

Diese Passage scheint einen wichtigen, wenn nicht den zentralen Fluchtpunkt des ganzen Zyklus zu bilden, von dem aus die einzelnen Gedichte nicht nur Ihre Energie gewinnen, sondern sich in einem Einheit stiftenden Zusammenhang ordnen.

 

Im zweiten Zyklus „Abfahrtszeiten“ variiert Kerler ebenfalls das  Thema des Alltagseinerlei aus der Sicht eines Bus fahrenden Anonymus.

 

Abfahrtszeiten

Ich halte die Hand ins Feuer für den Alltag

der mich verzweifeln lässt und beständig ist

täglicher Begleiter und ich weiß dass der Bus

auch abfahren kann vor oder nach der Zeit

und ich halte die Hand ins Feuer

weil das nicht weh tun muss

auch wenn man jährlich zum Phönix wird

ich rauche meine eigene Seele ich asche ab

so atme ich mich wieder komplett

ich weiß nicht was mich noch

aus der Bahn werfen kann und dann

steig ich in den falschen Buss

 

Danach beginnen alle Gedichte mit Datumsangaben im Titel, wie Feld – 23.09, Dienstag-24.09 oder Taxi-25.09, usw.

 

Anders als im Ehinger-Tor-Zyklus, sind in diesem Zyklus die Gedichte weniger stringent auf einander abgestimmt und weniger dicht motivisch durchgestaltet. Dafür enthalten sie viele Anspielungen auf Pop- und Rocksongs, wie soul kitchen von Doors oder harder better faster stronger von Daft Punk. Auch die Anspielung auf den Phönix im ersten Gedicht dürfte sich eher auf einen Song von Daft Punk als auf den klassischen Phönix-Mythos beziehen. Neben diesen Songtext-Verweisen spielen andere Gedicht auf bestimmte Bücher an, die das lyrische Ich als Fahrtlektüre bei sich hat, wie etwa Die Puppe im Gras, eine Sammlung norwegischer Märchen.

In manchen Gedichten scheint eine „Sie“ auf, in anderen ein „Du“. Beide bleiben aber so schattenhaft, dass man nicht recht weiß, welche Funktion sie erfüllen sollen. Überhaupt gelingt es dem Autor in den gut 40 Gedichten dieses Zyklus nicht so recht, das „poetische Etwas“ zu mobilisieren. Auch wendet er wenig Aufmerksamkeit auf Stilistik. Zwar erlauben die wechselnden Metren der freien Verse einen gut lesbaren Rhythmus, der aber, zusammen mit den meist nicht triftig ausgeführten Zeilensprüngen, eher einschläfernd wirkt. Zu der „poetischen Langeweile“ trägt auch die kraftlose Bildersprache und die kryptische Metaphorik bei.

Während der „Ehinger Tor-Zyklus“ eher nach dem Motto „In things, not in ideas[5]“ gearbeitet ist, scheint es bei dem Zyklus Abfahrtszeiten genau umgekehrt zu sein. Selten lösen hier die Gedichte das Versprechen ein, das Intendierte poetisch glaubhaft Gestalt annehmen zu lassen. Sie scheinen meist nicht weiter als auf ihre Oberfläche zu verweisen. Vielleicht ist es so gesehen gar kein Zufall, dass der gut durchgearbeitete „Ehinger-Tor-Zyklus“ von der Aufmachung des Bändchens her optisch diametral zu dem zweiten Zyklus angeordnet ist.

 

[1] Ehinger Tor VI

[2] Ehinger Tor IV

[3] Ehinger Tor X

[4] Blade Runner: The Director’s Cut, 1991.

[5] Eine von W.C.Williams Paterson-Gedicht abgeleitete Empfehlung an den Lyriker, nicht über Ideen zu reden, sondern Sachverhalte aufzuzeigen. Siehe Williams W.C. Paterson. New Directions Publishing Corporation; Reprint Edition 1995

Marco Kerler. Ehinger Tor Utopien – Abfahrtszeiten (RODNEYS UNDERGROUND PRESS) 2021, 96 Seiten, 10,00 € (plus 1,55 € Porto)

Fabian Lenthe - a´pnoe
Rezension von Amadé Esperer

In 62 Gedichten, die meist nicht mehr als vier Zeilen lang sind und so auf den ersten Blick, wie auch im Titel apnoe angedeutet, zu einem schnellen, atemlosen Lesen einladen, unternimmt der Nürnberger Lyriker Fabian Lenthe einen poetischen Streifzug durch unwirtliche Stadtlandschaften und das darin vereinsamende Leben der Menschen. Gleich zu Beginn des Gedichtbandes reflektiert ein vereinsamtes lyrisches Ich die seelische Unwirtlichkeit solcher Urbanexistenz:

 

Einmal sah ich nachts in den Himmel

Während ich dasaß und trank

 

Und ich war mir nicht mehr sicher

Wessen Leere ich füllte

 

Gesteigert wird die Einsamkeit des lyrischen Beobachters durch den Kontrast der herumtollenden Kinder, die eine Etage über ihm wohnen, und das Gelächter der Nachbarn.

 

Und oben die Nachbarn

Oben das Tollen der Kinder

Gelächter von Männern und Frauen

Unten bin ich

Unten bin ich

Unten bin ich

 

Das Erlebnis des Ausgeschlossenseins, das den Beobachter runterdrückt, wird hier nicht nur verbal, sondern auch formal, in der Optik des Gedichts ausgedrückt. Der Gedichttitel heißt denn auch Unten. Lente folgt übrigens dieser impliziten Titelgebung, die den Gedichttitel dem Gedicht nicht voranstellt, sondern ihn im Gedichttext inkorporiert, konsequent in all den diesem Band versammelten Gedichten. So kommt der Titel mal oben, mal in der Mitte, oder, wie in diesem Gedicht eben unten im Text zu stehen und gibt schon dadurch einen Hinweis, wie das Gedicht zu verstehen ist. Im Fall von unten fühlt sich der Sprecher unten, emotional down. Optisch wird das dadurch zum Ausdruck gebracht, dass in der dritten, also der untersten Strophe jeder Zeile mit „Unten“ eingeleitet, und die ganze Zeile „Unten bin ich“ dreimal wiederholt wird. Damit gelingt Lenthe der lyrische Streich, in der Form des Gedichts das inhaltlich Gesagte auszudrücken.

Die Unwirtlichkeit unserer Städte also, wie sie Alexander Mitscherlich[1] bereits im vergangenen Jahrhundert beklagt hat, wird von Fabian Lenthe in diesem Gedichtband in den Fokus genommen, aber nicht weinerlich apokalyptisch, sondern eher poetisch hymnisch mit einem guten Schuss Ironie:

 

Hier blüht Beton

Sprießt wilder Schatten

Duftet der Asphalt

Und ein paar Schritte weiter

 

Ist schon Frühling

 

Es ist wirklich verblüffend, wie es Lenthe gelingt, in wenigen Zeilen, ein Maximum an poetischer Ironie zu entwickeln. Auch ein paar Seiten weiter wird in dem Gedicht Früher die Uniwirtlichkeit der Stadtlandschaft ohne viele Worte, aber mit viel gekonnter Auslassung, gespiegelt. Auch dies wiederum ein durch und durch gelungenes Gedicht, das formal seinen Inhalt realisiert:

 

Es geht hier nicht weiter

Früher gab es einen Berg auf den wir kletterten

 

Aber jetzt muss man die Luft anhalten

 

 

Lenthes lyrischer Beobachter hat ein scharfes Auge, nicht zuletzt deswegen, weil er unvoreingenommen und im Grunde mit einem menschenfreundlichen Blick zu beobachten in der Lage ist. Was dieser Beobachter sieht lässt ihn zwischen Zweifel und Affirmation schwanken. Dies drückt sich in den Gedichten in unaufgeregter Sprache aus, die ohne Hysterie oder gar Untergangsapokalyptik auskommt. Oberflächlich gesehen kommt die Sprache eher sachlich fragend oder konstatierend daher, doch im mitschwingenden Subtext liegt umso mehr Subversivität. So etwa in sicher:

Ob es noch lohnt

Das Blau und das Grün

Drei Raben vor dem Fenster

Und keiner ist sich sicher

 

Auch die trostlose Monotonie, die die einsame Großstadtexistenz bei ihrer Suche nach rettender Erlösung befällt, wird nüchtern konstatierend, aber dadurch mit umso größerer Wirkung, präsentiert:

 

Etwas Neues erwarten

Etwas Anderes

 

Das Surren des Kühlschranks

Das Rauschen der Heizung

Das Tropfen des Hahns

 

Auch in diesem Gedicht Etwas gelingt es Lenthe, zwischen den Strophen einen spannungsvollen Kontrast aufzubauen. Ist in der ersten Strophe von etwas erwartungsvoll Neuem die Rede, wird diese hoffnungsvolle Erwartung in der zweiten Strophe jäh auf die Trivialität von immer schon vorhandenen technischen Geräuschen gestoßen. Damit schaffen es diese wenigen Zeilen, die ganze quälende Wucht, wie sie eine vereinsamte, sozial isolierte Großstadtexistenz von Zeit zu Zeit befällt, auszudrücken.

 

Obschon in dem Gedichtband auch immer wieder affirmative Töne aufscheinen, sind diese meist mit einem Schuss Moll versetzt. Aber umso tröstlicher wirkt dann das Bejahte, wie etwa in dem Gedicht muss:

 

Oder der Schnee auf den Dächern um fünf Uhr morgens

Das Licht der Bäckerei das den Gehweg färbt

 

Das Spiel der Ampeln und nasse Straßen

Und wenn dein Atem kondensiert

 

Alles ist do wie es sein muss

Und später der Tote im dritten Stock

 

 

Lenthe, der  Mitte dreißig ist, gelingt es, in den meisten in apnoe versammelten Gedichten, einen sehr authentischen Ton anzuschlagen. Da verzeiht man ihm gerne das dem Gedichtband vorangestellte Prunkzitat von Kleist und auch die wenigen Zeilen mit übersteigertem Pathos, wie etwa in dem Gedicht Asche: Es ist so still, wenn die Welt brennt / Aber ich schmecke die Asche in der Luft

Insgesamt gesehen überzeugen Lenthes Gedichte. Und zwar aus mehreren Gründen: Sie drücken schon optisch durch die Frugalität ihrer Zeilen das aus, was der Dichter als das ihn Bedrückende sagen will: Es fehlt etwas! Es besteht ein Mangel! Ein Mangel an Sozialleben, an menschengerechter Umgebung, an Natur, an Leben und Lebendigkeit. So heißt es denn auch in dem Gedicht Abwesenheit: Das Gewicht deiner Abwesenheit krümmt den Raum.

Mangel, Abwesenheit, Einsamkeit, das sind die Kernthemen dieses Gedichtbandes. Und diesen Themen wird Lenthe lyrisch gerecht. Denn diese Frugalität, diese Sparsamkeit der Worte, bedeutet nicht, dass es den Gedichten an poetischer Energie mangelt. Wie die oben zitierten Verse beweisen, ist das ganz und gar nicht der Fall. Im Gegenteil, dadurch, dass Lenthe auf narratives Geschwätz verzichtet, sich auf das ihm Wesentliche konzentriert, kommt dieses Wesentliche umso poetischer zum Ausdruck. Denn Lenthe verfügt über das gewisse „poetische Etwas“, das, wie ich in einer früheren Rezension gezeigt habe, manchem deutschsprachigen Lyrikpreisträger durchaus abzugehen scheint[2]. Lenthe hat es in seinen Gedichten eindrucksvoll geschafft, die von William Carlos Williams in seinem Langgedicht Paterson[3] erhobene Forderung an den Lyriker „No ideas but in things“ zu realisieren. Und Lenthes Gedichte, so kurz sie auch sein mögen, überzeugen auch deswegen, weil sie zwar Missstände beschreiben, aber keine Urteile aussprechen, keine hypermoralisch vergiftete Ideologie transportieren. Insofern kann man mit Fug und Recht sagen, Lenthes Gedichte sind wie hochauflösende Instrumente der Erkundung urbaner Lebenswirklichkeit im Einundzwanzigsten Jahrhundert. Und sie kommen mit ihrer Kürze den an den sogenannten Social Media geschulten Lesegewohnheiten entgegen. Aber! Man sollte sich nicht täuschen. Trotz ihrer Kürze, die zum schnellen Weiterlesen verführt, entfalten die Gedichte sich in der Regel erst ganz, wenn man sich mit dem Lesen Zeit lässt, wenn man sich mit ihnen auf einen ernsthaften Dialog einlässt.

Zu einem meditativen Lesemodus laden auch die sich unaufdringlich aber aussagestark zwischen die Gedichte einfügenden Zeichnungen von Michael Blümel ein. Die Aufmachung des handlichen Bändchens ist sehr gelungen. Ein bisschen fremdländisch wirkt allerdings, dass die Gedichtzeilen alle mit Großbuchstaben beginnen. Das wäre nicht nötig gewesen, denn die Zeilen haben auch so poetisches Gewicht genug.

Lenthes apnoe ist ein poetisch überzeugender Streifzug durch zentrale Aspekte modernen Lebens. Man darf gespannt sein auf den nächsten Gedichtband des Autors, und auch darauf, wann er sich an längere, weniger aphoristische Gedichte wagt. Das Zeug dazu hätte er.

 

[1] Mitscherlich A. Die Unwirtlichkeit unserer Städte: Anstiftung zum Unfrieden. 28. Edition, Suhrkamp, Berlin, 1999

[2] Esperer A. Was wir reden, wenn es gewittert. Rezension. Signaturen-Magazin 2018

https://www.signaturen-magazin.de/amade-esperer–was-wir-reden,-wenn-es-gewittert.html

[3] Williams W.C. Paterson. New Directions Publishing Corporation; Reprint Edition 1995

a´pnoe. Gedichte (RODNEYS UNDERGROUND PRESS) 2020, 79 Seiten, 8,95 (plus 1,55 € Porto)

Anke Glasmacher - OBSTKISTENPUNK
Rezension von Amadé Esperer

Um es gleich vorweg zu sagen, Obstkistenpunk ist ein durch und durch gelungenes Bändchen voller sprachlicher Delikatessen. Hier hat Anke Glasmacher literarische Hochform erreicht. In 15 kurzen, sehr kurzen und ultrakurzen Geschichten führt sie uns durch ganz unterschiedliche, meist urbane Areale und Milieus. Ob die Geschichte im Theater spielt, am Strand, am Gepäckterminal eines Flughafens oder im Loft einer Großstadt, immer gelingt es der Autorin gleich zu Beginn der Mikrostory[1] unsere Neugierde zu wecken. Wie gebannt folgt man ihr Szene für Szene, denn Glasmacher versteht es, einen dramaturgischen Spannungsbogen zu erzeugen, der eine so starke Sogwirkung entfaltet, dass man sich nicht entziehen kann. Jede Geschichte hat ihr eigenes Geheimnis, das sich beim Weiterlesen aber nicht einfach preisgibt. Es ist vielmehr so, dass sich die Geschichten von Szenerie zu Szenerie jedes Mal wieder in eine andere Richtung drehen, sich jedes Mal in anderen Bildern präsentieren, ganz so wie beim Blick durch ein Kaleidoskop, das beim Weiterdrehen immer neue, überraschende Konstellationen von Farben und Formen zu erkennen gibt. Genauso ist es mit Glasmachers Obstkistenpunk-Geschichten.

Die Sprache der Autorin ist zwar glasklar, ihre Sätze eher kurz, meist parataktisch gearbeitet, aber durchdrungen von einer solchen poetischen Kraft, dass sie einen unmittelbar sinnlich berühren. So gelingen ihr einzigartige Formulierungen, wie:

…und stand dann neben dem onkel im türrahmen. voller umarmung

oder:

sie strahlte und spuckte wörter nach draußen. Ihr geradewegs ins gesicht. ganze willkommenssätze klebten nach wenigen minuten auf ihrer wange. Ihre cousine griff in die fremden sonnenstrahlen und hielt sie umschlungen.

und:

die stille fiel ihr auf. eine finstere stille … kam die stille sogar unter der schwarzen haustür hindurch. kroch den schmalen flur entlang und legte sich über alles…

und auch:

die frau hatte eine tür in ihren augen geöffnet

 

Glasmacher gliedert ihre Geschichten in kurze Absätze, so als handele es sich um Gedichtzeilen. Tatsächlich kann man einige der Kürzestgeschichten auch als Prosagedichte lesen. Aber auch in längeren Geschichten bilden die kurzen Absätze ein wichtiges Stilelement, denn sie strukturieren die Geschichten wie einen Film, und jeder Absatz birgt eine abgeschlossene Bildsequenz, die die vorhergehende aus einer anderen Perspektive ergänzt. Dabei sind die inhaltlichen Sprünge mal minimal, wie bei einem weichen Schnitt, mal ausgeprägter und übergangslos, wie bei einem harten Schnitt.

Harte Schnitte finden sich beispielsweise zu Beginn der Geschichte Im Kreidekreis:

 

   sie lag da. am bordstein. vermutlich vergessen.

 

   auf den straßen stand die atemluft der schornsteine,

grau hing der morgen in den häusern

 

   die alte im erdgeschoss drehte sich auf ihrem quietschenden

bett. Sie roch und dünstete durch die schwere holztür in den hausflur.

unter dem fenster ihere wohnung bröckeklten die einschüsse aus zwei

weltkriegen, in der nacht waren an der kohlenbraunen wand die graffiti erneuert worden.

 

….

 

Darüber hinaus sind viele Geschichten wie Musikstücke komponiert. Denn Glasmacher führt zu Beginn jeweils bestimmte Signalwörter ein, die dann im Lauf der Geschichte gleichsam wie Leitmotive wiederkehren, mitunter kunstvoll verschränkt und enggeführt, wie das mit dem thematischen Material einer Fuge geschieht. Indem Glasmacher dieses Kompositionsprinzip literarisch nutzbar macht und auf ihre Texte anwendet, erzeugt sie eine solche poetische Kohärenz, dass der Leser das Gefühl von harmonischer Schönheit erlebt, selbst wenn ihn die Texte ins Zwielichtige, Abartige oder Undergroundatmosphärische entführen.

In der Geschichte Anna kommen all diese Stilprinzipien voll zum Tragen und werden noch getoppt durch das Verfahren der Überblendung, so dass gleichzeitig von einer Anna und einer Franziska die Rede ist, die im Bewusstsein einer einzigen Person wie eine stehende Welle hin und her oszillieren. Das ist wirklich große Kunst, was Glasmacher uns hier bietet. Obstkistenpunk steht daher auf der ARIEL-ART Bestsellerliste ganz oben!

 

 

[1] Esperer Amadé. Faszinosum Flash Fiction. über eine neue literarische Erzählform. Bayerisches Literaturportal https://www.literaturportal-bayern.de/journal?task=lpbblog.default&id=2246

Anke Glasmacher. OBSTKISTENPUNK. (ELIF VERLAG) 2018, 60 Seiten, 12,00 €

Anke Glasmacher - Ein morsches Licht
Rezension von Amadé Esperer

Ein morsches Licht ist Anke Glasmachers vierte Buchveröffentlichung. Im Gegensatz zu Obstkistenpunk, 2018 in zweite Auflage ebenfalls beim Elif-Verlag erschienen, wendet sich die Autorin in Morsches Licht wieder dem Kurzgedicht zu. In knapp neunzig Gedichten unternimmt sie einen Streifzug durch ganz unterschiedliche Gelände: vom Hochpolitischen über Probleme der urbanen Gesellschaft bis zu privat Intimem reicht das thematische Spektrum.

Das bemerkenswerte Eingangsgedicht des Bandes heißt Kein Wort. Kälte und kommt wie ein poetologisches Programmgedicht daher, das auf Celans späte, wort-verknappte Lyrik Bezug zu nehmen scheint, allerdings in einem eher expressiven, energischen Tonfall.

 

Kein Wort. Kälte

 

im rhythmus des ungesagten

hämmern gedanken

eingebrannt in ihrem schmerz

 

nichts bezaubert so

wie das leiden des dichters

der mit seinem stift versucht

der kalten tinte zu entfliehen

 

das feuer

das wärmen könnte

brannte nie

 

erforen

ist das wort

am

unsagbaren

 

Expressiv und energisch, ja bisweilen sogar aggressiv ist die Tonlage des gesamten Bandes, mit wenigen Ausnahmen. Ähnlich wie in Obstkistenpunk durchziehen diverse Gerüche, meist keine Wohlgerüche, die Texte. Denn die Autorin hat sich auch in diesem Band Welthaftigkeit auf die Fahnen geschrieben, Welthaftigkeit, die sich weder für schäbige Milieus noch für Außenseiter und Ausgestoßene zu fein ist. Und so bietet sie uns nicht nur entsprechend drastische, blutige Bilder, sondern evoziert auch Fäulnis-, Schweiß und Eitergestank in einer Art Benn´schen Morgue-Gestik. Allerdings brutaler und nicht eingebettet in romantizierende Veilchenkontraste. Dieses Programm ist in dem Gedicht Ich erhebe zusammengefasst:

 

im geteilten Kopf

erhebe ich mein schmutziges wort

mit fauligen zähnen

 

jeden meiner schweißigen schritte

bette ich fortan

auf bunten zigarettenschachteln

 

neben einer flasche schuhe

schlüpfe ich in das glas

 

und puste neuen stoff aus

 

Die durchwegs kurzen, meist 3 bis 4, manchmal auch nur 1 oder 2 Strophen umfassenden Gedichte sind rhythmisch gut komponiert. Häufig zeigen die Strophen Drei-, selten Zweizeilige, und manchmal eine Kombination aus zwei Quartetten und zwei Terzetten, die nicht nur optisch, sondern auch wegen des inhaltlichen Antagonismus zwischen Quartetten und Terzetten, wenn auch in fragmentarischer Form, ein Sonett evozieren. So etwa Das Dreiseidene Netz:

 

der regen perlt

mein graues kreuz

aufgehängt

an ihrem seidenen faden

 

fest hängt sie

in ihrem netzt

und saugt

an meiner dünnen haut

 

wir

streichen den feuchten

wind

 

ich

jetzt nur noch mit drei

beinen

 

 

Die freien Verse kommen ohne End- und meist auch ohne Binnenreim aus. Überhaupt pflegt Glasmacher eine nüchterne, schnörkellose Sprache. Dennoch ist das keine, bloß über die Zeile gebrochene Prosa. Denn trotz aller Frugalität in den klanglichen Mitteln, spart die Autorin nicht mit poetischen Metaphern. Ja die meisten, in dem Band versammelten Gedichte leben geradezu von Metaphern, die manchem Gedicht eine vibrierende Ambivalenz verleihen, wie etwa bei Eisprinzessin:

 

der letzte tag

das eis perlt über die windschutzscheibe

mit der zunge leckt die nachbarin

ein lachendes gesicht hinein

später kratze ich die

weiße zunge herunter

der nachbarin stecke ich

den eispickel in den rachen

und fahre in den sonnenaufgang

kurz vor der autobahn

zieht der scheibenwischer immer

noch eine blutige bahn

 

Dieses Gedicht zeigt übrigens beispielhaft für viele, in diesem Band versammelte, dass Glasmacher den Zeilensprung meist sehr Wirkungsvoll einsetzt und so ihren Versen nicht nur Stakkato-Taktung, sondern auch Mehrdeutigkeit verleiht. Auf diese Weise entsteht ein eindrucksvoller Ton, der beim Leser[1] eine nachhaltige Wirkung des Gesagten erzeugt. Als stehe hinter jedem Gedicht ein großes Ausrufungszeichen. Dies wird nicht selten noch unterstrichen durch die in scharfer Sprache gezeichneten brutalen Bilder. Oft treibt Glasmacher dabei ihre Metaphern aber auch ins Chiffrenhafte und umgibt ihre Gedichte mit hermetischen Hecken:

sie / wittert den moment / mir den warmen fuß auszureißen / … /aus meinem stumpf / quillt eitrig /

die neue brut

 

Mitunter erscheinen die einzelnen Verse wie in unterschiedliches Licht getauchte, in harter Schnitttechnik aufeinander folgende Filmsequenzen. So etwa in Rosengarten, in dem der Häuserkampf im Berliner Prenzlauer Berg thematisiert wird:

 

ecke kopenhagener

warten die einschusslöcher

der friseur serviert schokolde

während er mir den häuserkampf

in die locken webt

im kopf der frau aus dem erdgeschoss

steckt schon eine rose

ecke kopenhagener

herrscht krieg

 

Oft herrscht auch eine ziemlich vulgäre Sprache, die die Autorin der Straße und bestimmten Milieus abgelauscht haben mag. So in dem Gedicht 3.Oktober, in dem der Tag der deutschen Einheit aus der Perspektive gewaltbereiter Gruppen thematisiert wird. Das Gedicht bebt nur so vor Sex und Gewalt:

 

die band im club SO 36

kotzt ratten

auf dem glastisch

verschmiert die milch

die er aus meinem leib

gemolken hat

 

Zwischen all den herben, in „morsches Licht“ getauchten Gedichten, die in ihrer Verliebtheit in die Ästhetik des Hässlichen stellenweise an Grünbeins Grauzone morgens erinnern, finden sich auch einige in ganz anderen, leiseren Tönen gemalte. So etwa das Liebesgedicht Flüchtig:

 

die geliebte

strahlt wie selten

aus ihrem foto

 

ihr kuss

nagt wie selten

an meiner erinnerung

 

die umarmung

schmerzt wie selten

in meinen armen

 

Glasmacher beweist in dem Band Ein morsches Licht ein scharf beobachtendes Auge. Sie montiert glaubhaft Gossensprache und Jargon in hochsprachlich gehaltene Texte und erzeugt dadurch einen besonders scharfen Kontrast, der das, was die Autorin im Argen liegen sieht, überdeutlich hervortreten lässt. Nur in wenigen Gedichten erlaubt sie dem Leser den Rückzug in ruhige Gefühlsgewässer, jeden Moment, schon in der nächsten Zeile, kann sich eine handfeste Hässlichkeit in irgendeiner Problemzone zusammenbrauen. Dass Glasmacher dabei über die Stränge schlägt, ist selten. Meist weiß sie genau, wann sie den spitzen, schrillen Ton durch ein weichmachendes Kontrastbild abmildern muss. Doch in einem Gedicht wird sie maßlos. Es ist das Gedicht Ich trage die Wolke ins Haus aus dem Zyklus Geisterstunde. Hier, wie schon im Eingangsgedicht Kein Wort. Kälte zeigt die Autorin, dass sie sich der lyrischen Traditionslinie durchaus bewusst ist, in der sie als deutschsprachige Dichterin steht. Dass sie dieser Traditionslinie aber, wie sie etwa von Ingeborg Bachmann verkörpert wird, ablehnend gegenübersteht, macht sie ausreichend deutlich. So bezieht sie sich expressis verbis auf Bachmann, macht aber klar, dass ihr deren Texte quasi den Buckel runterrutschen können:

 

der nachlass der dichterin bachmann

liegt in säurefreien schachteln

dazwischen läuft mir die erregung

den buckel runter

Soweit so gut, das ist legitim und entbehrt nicht eines gewissen ironischen Witzes. Als nachgeborene Autorin hat man ja durchaus das Recht, ja sogar die Aufgabe, gegen die Tradition anzuschreiben, sie umzuschreiben, sie zu überschreiben. Aber man sollte immer wissen, dass man auf den Leistungen derer vor uns aufbaut. Muss man es also wirklich so weit treiben, dass man das Bachmann´sche lyrische Erbe als gestank des ungelebten lebens verunglimpft:  

aus der säurenfreien schachtel entsteigt der /

gestank des ungelebten lebens ?

 

Es ist schade, dass sich Glasmacher zu diesen beiden Zeilen verstiegen hat, sie nicht einmal ironisch relativiert hat. Denn so wird sie, die doch in all ihren anderen Gedichten einen unvoreingenommenen, ideologiefreien Blick bewiesen hat, doch noch von Voreingenommenheit eingeholt. Da ist dieser Misston der Verachtung, der sich nicht in die Reihe ihrer anderen, durch Authentizität beglaubigten Gedichte einfügen will. Wer auf Bachmann als auf jemanden rekurriert, der „Ungelebtes Leben“ gedichtet haben soll, der sollte Bachmanns Gedicht Wahrlich[2] zur Kenntnis nehmen, wo es heißt:

Einen einzigen Satz haltbar zu machen

auszuhalten in dem Bimbam von Worten

 

Es schreibt diesen Satz keiner,

der nicht unterschreibt.

 

Dem ist nichts hinzuzufügen. Dennoch, trotz des einen, etwas überschießenden Gedichtes, bei dem übrigens auch das letzte Enjambement missglückt ist, wäre es mehr als verfehlt, Glasmachers Band Ein morsches Licht nicht als eindrucksvoll und handwerklich gekonnt in Szene gesetztes Werk einer scharfsinnig beobachtenden, zeitkritischen Lyrikerin zu würdigen.

 

 

 

 

 

 

 

 

[1] Dieser Text verwendet das grammatikalisch definierte generische Maskulinum. Selbstverständlich bezieht es sich immer, wenn angebracht, auf alle biologischen Geschlechter.

[2] Bachmann Ingeborg, Wahrlich in: Frauen. Lyrik. Gedichte in deutscher Sprache. Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Ditzingen 2020

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Anke Glasmacher. Ein morsches Licht. (ELIF VERLAG) 2020, 95 Seiten, 18,00 €

Ingo Cesaro - Dein Herz verbrannte nicht
Rezension von Amadé Esperer

In diesen wahnsinnigen Zeiten

 

graben den Leichnam

von Jan Palach aus

1969 nach seinem wahnsinnigen Fanal

in Prag begraben

später in sein Heimatdorf umgebettet

hieß es doch

sprach man hinter vorgehaltener Hand

„Dein Herz verbrannte nicht –

Jan Palach

 

Mit diesem Gedicht beginnt der dem tschechischen Widerstandskämpfer Jan Palach gewidmete Band „Dein Herz verbrannte nicht“ von Ingo Cesaro. Und weiter hinten in diesem Band, der zusätzlich zu zwei umfangreichen Gedichtzyklen auch den Text eines Theaterstückes in neun Szenen sowie als Erinnerungssplitter bezeichnete Prosameditationen enthält, schreibt Cesaro:

 

Als politischer Autor sehe ich es als meine andauernde Aufgabe, an Jan Palach, an sein Fanal, zu erinnern – in einer Zeit, in der viele die Demokratie als Selbstverständlichkeit ansehen und die Gefahren, die ihr drohen, oft leichtfertig abtun.

 

Es geht also um die Erinnerung an Jan Palach und wir dürfen diesen 80 Seiten langen Band als hochkarätiges literarisches Denkmal für den Widerstandskämpfer verstehen. Wer aber war dieser Jan Palach, dem der national und international bekannte Schriftsteller, Schriftkünstler, Herausgeber und Kunstorganisator Ingo Cesaro hier ein so emotional engagiertes Buch widmet? Und wogegen hat Palach Widerstand geleistet, oder besser gefragt: Wofür hat Jan Palach ein Fanal gesetzt? Kurze Antwort: Gegen Unterdrückung, für die Freiheit, für den „Prager Frühling“.

Den älteren Lesern wird sich der „Prager Frühling“ ebenso wie der brennende Student vom Wenzelsplatz bis heute ins Gedächtnis gebrannt haben, wurde doch seinerzeit darüber in allen westdeutschen Tages- und Wochenzeitungen viel berichtet. Der „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, den die Proponenten des Prager Frühlings anstrebten, war den bundesdeutschen Intellektuellen und Schriftstellern schon deswegen ein Begriff, weil er maßgeblich von tschechoslowakischen Intellektuellen und Schriftstellern, wie etwa Vázlav Havel und Pavel Kohut, wesentlich mit vorbereitet worden war. Auch mir sind diese Autoren noch ein Begriff und ich erinnere mich auch noch gut an den damaligen tschechoslowakischen Präsidenten „Svoboda“, dessen Name auf Deutsch „Freiheit“ bedeutet und hervorragend zu der Reformpolitik des „Prager Frühlings“ passte.

Für die jüngeren Leser, denen Jan Palach und seine Aktion weniger bekannt sind, soll kurz der zeitgeschichtliche Hintergrund seiner Selbstanzündung beleuchtet werden, zumal dieser auch literaturgeschichtlich nicht uninteressant ist und mit keinem geringeren als Franz Kafka zu tun hat. Im Vorfeld des politischen Frühlings gab es nämlich einen „literarischen Frühling“, dessen erster Höhepunkt als literarische Rehabilitierung des bis dato im gesamten Ostblock verfemten Frank Kafka aufleuchtet. Auf dieser „Kafka-Konferenz“ im Mai 1963 wurde bei einer Diskussion über Entfremdung als zentralen marxistischen Begriff Franz Kafka von den tschechoslowakischen Literaten als ein Dichter gewürdigt, der die gesellschaftliche Entfremdung des modernen Menschen genau beschrieben habe. Dies stieß vor allem bei den Konferenzteilemehr aus der „DDR“ auf erbitterten Widerstand, denn, so wurde von ihnen argumentiert, im Sozialismus gäbe es keine Entfremdung des Arbeiters von seiner Arbeit. Die Diskussionen dieser Kafka-Konferenz wurde von der Literaturzeitschrift Literární noviny aufgegriffen und weitergeführt. In der Folge entwickelte sich die Zeitschrift zur öffentlichen Plattform der intellektuellen Kreise, welche die geistige Stimmung des politischen Reformprozess bestimmte, der dann zum „Prager Frühling“ führte“[1]. Anfang Januar 1968 kam es, nachdem sich die fortschrittlichen Kräfte innerhalb der KPČ durchgesetzt hatten, zu einem Führungswechsel. Unter Alexander Dubček beschloss die Führung unter dem Druck der Schriftsteller am 4. März 1968 die Aufhebung der Zensur.

Die Tschechoslowakei hatte im Frühjahr ‚68 die freieste Presse und die freiesten Medien der Welt. Die Journalisten waren so frei, wie sie wollten. Sie konnten alles schreiben und alles ging sofort auf die Seiten und sofort in den Rundfunk und sofort auf den Bildschirm. Das war diese Freiheit.[2]

Was die Menschen damals besonders bewegte, war die Rehabilitierung der Opfer des stalinistischen Terrors. Nirgendwo außerhalb der Sowjetunion hatte die kommunistische Repression so viele Bürgerinnen und Bürger getötet, gefoltert, verhaftet und beruflich geschädigt wie in der ČSSR nach dem Februar-Putsch 1948. Bürgertum und Mittelstand waren ihrer Existenz beraubt und aus dem öffentlichen Leben praktisch verschwunden, ausgelöscht wurde die Sozialdemokratie und verfolgt wurden all jene Kommunisten, die sich gegen die Bolschewisierung zur Wehr zu setzen versuchten.[3]

Für die Kommunisten im Kremel war die neue Linie der KPČ allerdings nichts weniger als Konterrevolution. Sie kritisierten die Künstler- und Intellektuellenkreise der Tschechoslowakei scharf und fuhren massive Invektiven gegen den angeblichen Einfluss der westdeutschen und amerikanischen „Imperialisten“. Auch die Machthaber in der angrenzenden „DDR“ waren hochgradig beunruhigt über die Entwicklung in der Tschechoslowakei, so dass die Abteilung Agitation des Ministeriums für „Staatssicherheit“ Gerüchte über angebliche Zersetzungsversuche der Westmächte in Umlauf brachte und ihre offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter gegen unliebsame Intellektuelle im eigenen Land in Stellung brachte[4]. In der Nacht zum 21. August 1968 schickte die UDSSR schließlich, zusammen mit den Warschauer-Pakt-Staaten, Truppen in die Tschechoslowakei und erstickten den aufkeimenden politischen Frühling gnadenlos. In Prag, wo Hunderttausende sich den einrollenden Panzern entgegenstellten, um die eben erst erlangten Freiheiten zu verteidigen, kamen über hundert Männer und Frauen ums Leben.[5]

Jan Palach war von dieser gewaltsamen Niederschlagung erschüttert, umso mehr, als er erst kurz zuvor bei einem Frankreichaufenthalt[6] im Rahmen seines agrarwissenschaftlichen Studiums die Luft der Freiheit geatmet hatte. Sein Entschluss zur Selbstanzündung reifte, weil er die Bevölkerung durch die sowjetischen Unterdrückungs- und Zwangsmaßnahmen in Lethargie und Mitläufertum zurückzufallen sah. Mit seiner Tat wollte er ein Fanal setzen, das nicht nur seine Landsleute zum Widerstand ermutigen, sondern an die ganze freie Welt appellierte, die Tschechoslowakei in ihrem Aufbäumen gegen die kommunistischen Unterdrücker nicht alleine zu lassen. In einem seiner Abschiedsbriefe, den eine Widerstandsgruppe in der Nacht zum 20. Januar 2969 an öffentlichen Plätzen und Gebäuden plakatierte, hieß es:

„Da unser Land davorsteht, der Hoffnungslosigkeit zu erliegen, haben wir uns dazu entschlossen, unserem Protest auf diese Weise Ausdruck zu verleihen, um die Menschen aufzurütteln. Unsere Gruppe ist aus Freiwilligen gebildet, die dazu bereit sind, sich für unser Anliegen selbst zu verbrennen. Die Ehre, das erste Los zu ziehen, ist mir zugefallen, damit erwarb ich das Recht, den ersten Brief zu schreiben und die erste Fackel zu entzünden.“[7]

 

An diese heroische Tat Jan Palachs erinnert der Band Dein Herz verbrannte nicht von Ingo Cesaro. In einer bewusst herunterklimatisierten, aber dennoch von tiefer Empathie getragenen Sprache, gelingt es Cesaro, was heute in der deutschen Lyrik nur selten gelingt: einem politischen Helden in würdiger Sprache ein literarisches Denkmal zu setzen. Man spürt es den Versen an, wie sehr Cesaro sich mit der Sache Jan Palachs identifiziert und wie sehr ihn die Umstände, die zu Jan Palachs Selbstanzündung führten, ihn auch heute noch empören:

die Kerzenflammen

züngelten im Januarfrost

ich dachte an die Flammen

die deinen Körper zerstörten

an deinen freiwilligen

an deinen unfreiwilligen Tod

immerzu musste ich

an Hexenverbrennungen denken

an die Krematorien

von Auschwitz und anderswo

 

Und Cesaro reflektiert auch die damalige Haltung vieler Intellektueller, Literaten und Politiker auf der westlichen Seite des Eisernen Vorhangs, wenn er in dem Gedicht Wir hielten Abstand schreibt:

 

gnadenlos umzingelt von Hass und Unfreiheit

unüberwindbar geworden

diese Gefängnismauer

immer enger wurde der Kreis

wurde zum Teufelskreis

für dich gab es nur dieses wahnsinnige Opfer

der Anstoß für uns

der Aufschrei

und wir außerhalb dieser Mauer

hielten Abstand

ließen uns nicht mit hineinziehen

wir verdrängten offensichtlich

schoben es auf die große Entfernung

Dieser bemerkenswerte Band ist denn auch nicht nur Jan Palach gewidmet, sondern allen, die sich für Freiheit, für Meinungsfreiheit und demokratische Werte weltweit einsetzen. Er ist eine Mahnung an uns alle, nicht zu vergessen, was wir an unserer Freiheit und unseren Werten haben. Eine Mahnung an uns, nie aus den Augen zu verlieren, dass diese Werte nur in einer Demokratie möglich sind, und dass Demokratie und Meinungsfreiheit nichts Selbstverständliches sind, sondern, dass man dafür auch Opfer bringen muss, Opfer für sein Volk und für die freiheitliche Kultur des Westens:

 

die Liebe für sein Volk

sich zu opfern

wie Jan Palach

am 16. Januar 1969

der sich auf dem Wenzelsplatz

selbst anzündete

und bis zum 19. Januar starb

sich opferte

für die Demokratie seines Landes

die mit Panzern niedergewalzt

 

 

[1] Jan Pauer: Der tschechoslowakische Reform- und Demokratisierungsprozess im Lichte der „Perestroika“. In: Tilly Miller (Hrsg.): Prager Frühling und Reformpolitik heute (= Akademiebeiträge zur politischen Bildung, Bd. 20). Olzog, München 1989, S. 44–57, Zitat S. 50.

[2] https://www.deutschlandfunkkultur.de/sozialismus-mit-menschlichem-antlitz.984.de.html?dram:article_id=153418

[3] Ebd.

[4] https://www.bstu.de/informationen-zur-stasi/themen/beitrag/die-stasi-und-das-ende-des-prager-fruehlings/

[5] https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/dossiers/prager-fruehling-1968/geschichte

[6] https://www.welt.de/geschichte/article187135404/Jan-Palach-die-lebende-Fackel-Selbstverbrennung-in-Prag.html

[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Jan_Palach

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Ingo Cesaro. Dein Herz verbrannte nicht. Das Fanal von Jan Palach (éditions trèves) 2019, 80 Seiten, 14,00 €

Egon Flaig - Was nottut
Rezension von Christopher Licht

Das Buch Was nottut. Plädoyer für einen aufgeklärten Konservatismus von Egon Flaig, 2020 erschienen, ist ein Meilenstein in der gegenwärtigen Kultur- und Gesellschaftskritik und durchaus relevant für Literaten und Kulturschaffende. Das Buch ist nicht nur in exzellentem Deutsch geschrieben, sondern überzeugt auch durch seinen historisch-philosophisch informierten wissenschaftlichen Ernst und die stringent logische, ideologieferne Argumentationsweise.

In zwölf, „Einwürfe“ genannten, Kapiteln zeigt der renommierte Althistoriker und Emeritus der Universität Greifswald, Egon Flaig, der bereits mit seiner zum Standardwerk gewordenen Weltgeschichte der Sklaverei[1] von sich reden gemacht hat, die Ursachen und Widersprüche der derzeit bestimmenden Kulturdiskurse in Deutschland und Europa auf. Dabei wird er nicht müde, auf die verheerenden Folgen und Gefahren eines grenzenlosen Neoliberalismus für die kulturelle Orientierung und demokratische Verfasstheit Europas und seiner Länder, vor allem Frankreichs und Deutschlands, hinzuweisen.

Als Proponent eines konservativen, aber dennoch fortschrittlichen und Europa begeisterten Kulturverständnisses, sieht Flaig die Hauptgefahren für die Freiheit von Kunst und Kultur in einer schleichenden Abschaffung des öffentlichen Diskursraumes sowie in der Monopolisierung pseudomoralischer Haltungen, die sich der Vergangenheitsmanipulation ebenso bedienen wie der retrograden Akkulturation von Geschichte und der Negierung abendländischer Kulturleistungen. Immer wieder bringt er demokratisch nicht legitimierte Akteure ins Spiel, die im Namen einseitig ausgelegter universeller Ideen an der Zerstörung der kulturellen Identität Europas mitwirken. Scharfsinnig weist er in diesem Zusammenhang auf den Missbrauch von neutralen Chiffren beim moralischen Argumentieren hin, was etwa die Wertediskussion oder Schulddiskurse der Dritten Welt gegenüber angeht:

Eine breite Diskussion über die maßgeblichen Werte muss geführt werden. Nicht jedes Schlagwort kann zum Wert erhoben werden. „Offenheit“ z.B. ist kein politischer Wert, sondern eine neutrale Chiffre. Man kann offen sein für die Vernichtungspläne eines totalitären Regimes, so wie man offen sein kann für moderne Lyrik. Alle Diskussion über Werte wird lächerlich, wenn sie nicht bezogen ist auf die Frage nach der kulturellen Orientierung …

Unter Verweis auf Hannah Arendt schreibt Flaig der konservativen Haltung schon deswegen eine realistischere Einstellung als den „Progressiven“ zu, als konservative Denker die Verlierbarkeit dessen, was auf dem Spiel steht, besser im Auge behielten. Denn Demokratie und demokratische Institutionen seien, ebenso wie etwa die kulturellen Werte von Freiheit und Individualität, nichts für immer Gegebenes, sondern müssen immer wieder aufs Neue gegen die Feinde der demokratisch verfassten Gesellschaften verteidigt werden. Im Einklang mit Popper[2] sieht Flaig denn auch „Alltoleranz“ als den schleichenden moralischen Tod jeder freiheitlichen Kultur an. Alltoleranz, so diagnostiziert er, erfolge geradewegs aus einem gravierenden Mangel an Werteorientierung und perpetuiere die sich verschlimmernde Orientierungslosigkeit:

Wer eigene Werte hat, kann nicht jene Werte achten, die sich gegen die eigenen richten. Wer Werte hat, kann darum nicht beliebig tolerant sein. Wem alle Werte – auch die widerlichsten und abscheulichsten – auf gleiche Weise gültig sind, der ist gegenüber allen Werten gleichgültig. Alltoleranz … kombiniert moralische Depression mit infantiler Fröhlichkeit und dauert historisch niemals mehr als zwei Generationen, weil danach eine Gesellschaft absolut wehrlos ist und schlicht und einfach kollabiert …Die Pariser UNESCO-Erklärung zur Toleranz von 1995 hat die Reichweite von Toleranz [deswegen] begrenzt auf jene kulturellen Besonderheiten, die sich innerhalb menschlicher Vorgaben bewegen.

Konsequenterweise unterzieht Flaig in diesem Zusammenhang auch die Medien in ihrer Rolle bei der Gestaltung des öffentlichen Diskurses einer deutlichen Kritik. Diese fällt besonders harsch aus, weil den Medien heute die dominierende Rolle bei der Schaffung von Öffentlichkeit und der Herstellung von Wahrheit zukommt. Hier diagnostiziert Flaig eine strukturelle Veränderung des medialen Feldes, von dem ein Großteil europafeindlich, demokratiefeindlich und menschenrechtsfeindlich auf unsere Kultur einwirke:

Europafeindlich ist dieser Teil, weil er die abendländische Kultur abwertet oder gar mit Gehässigkeit verfolgt – auch um den Preis der „fake history“; demokratiefeindlich ist er, weil ihm weder an der Volkssouveränität noch am Fortbestand der demokratischen Öffentlichkeit etwas liegt; menschenfeindlich ist er, weil er elementare Artikel der Menschenrechte missachtet, um kulturelle Sonderrechte zu befürworten. In den Massenmedien kommen Andersdenkende kaum noch zu Wort oder sie werden verunglimpft. Aber Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden […]

Und in Bezug auf die öffentliche Meinung führt er weiter aus:

Die heutige „öffentliche Meinung“ ist mitnichten die Meinung der Mehrheit. Vielmehr wird sie dafürgehalten, weil zu wenige sich trauen, die eigene Meinung kundzutun, und darum gar nicht abschätzbar ist, in welchem Umfang die „öffentliche Meinung“ nichts andres darstellt als die Meinung von Minderheiten – ein mediales Simulacrum, substantiell unterschieden von der hegemonialen Leitideologie und Leitmoral. Die Journalisten sind entweder eingeschwenkt auf Vorgaben … oder sie sind eingeschüchtert und wagen es nicht mehr, kritische Nachfragen zu stellen […] Wo das Argumentieren unerwünscht ist, bleibt nur, den Andersdenkenden zu diffamieren, um das Denken der Bürger lenken zu können. Je besser das mediale Simulacrum „öffentliche Meinung“ funktioniert, desto weiter wird die Meinungsfreiheit suspendiert – an den Universitäten und bei öffentlichen Veranstaltungen. Das trifft die erste und fundamentalste Dimension der politischen Freiheit – im Gegensatz zur individuellen –, nämlich die Freiheit des Wortes, welche die Griechen „parrhesia“ nannten. Denn Freiheit ist immer die Freiheit jenes Andersdenkenden, der seine Gedanken frei ausspricht. Einst war die Pressefreiheit das Schiboleth der liberalen Bewegungen gegen den Obrigkeitsstaat. Heute sind die Massenmedien mit der rhythmischen Fabrikation von „öffentlicher Meinung“ zum direkten Widersacher der Meinungsfreiheit geworden.

In diesem Zusammenhang geht Flaig auf das Fehlen eines leitkulturellen Maßstabes ein und die verheerenden Folgen, die stattdessen das Joker-Element „Politische Korrektheit“ auf den Wahrheitsgehalt medialen Berichtens ausübt. Überzeugend zeigt er auf, was die Folgen für eine Kultur sind, in welcher der öffentliche Äußerungsraum von den Medien nicht mehr nur durch Fakten, sondern durch gefälschte Geschichte, fake history, definiert wird:

Gälte in Deutschland eine menschenrechtliche Leitkultur, hätten die medialen Akteure Maßstäbe, um „richtig“ und „falsch“ zu unterscheiden. Doch an der Stelle einer Leitkultur herrscht eben die Politische Korrektheit. Und deren … Einfalt erpresst eine zweifach Entgrenzung: Erstens muss die Weltgemeinschaft und insbesondere der Westen an allem Übel schuld sein, da alles Übel verhinderbar ist und nur geschieht, weil es nicht verhindert wird; in dieser Logik verschwindet der Täter, weil zu Schuldigen alleine diejenigen werden, die den Täter nicht hindern …Zweitens nötigt das zu ständiger Überbietung beim Beschuldigen; wer nüchtern bleibt und nach Gründen fragt, gerät unter den Verdacht, egoistisch zu sein, „unmenschlich“ oder gar menschenfeindlich. Die Politische Korrektheit verschafft dem moralisch Entrüsteten einen uneinholbaren Vorsprung, kraft dessen er sogar Talkshowmaster für eine Gedenkminute strammstehen lässt. Je mehr die medialen Akteure dem konkurrentiellen Zwang gehorchen, Aufmerksamkeit zu erregen, desto mehr müssen sie Sachverhalte dramatisieren, hysterisieren, skandalisieren und dann die Skandale personalisieren. Dir Politische Korrektheit kommt ihnen zu Hilfe; ihre terroristische Konformität schafft „rote Linien“ und „Übeltäter“, und sie autorisiert dazu, kraft der richtigen Gesinnung das Andersdenken zu skandalisieren und Andersdenkende zu diffamieren.  

Eingeflochten in Flaigs Kulturkritik sind immer wieder Hinweise und Empfehlungen, wie die Freiheit der offenen Gesellschaft und ihr Wertekanon, gegen die vielfältigen inneren und äußeren Bedrohungen, gesichert werden kann. Hier weist Flaig der Rückbesinnung auf die kulturelle Besonderheit Europas und die Errungenschaften des Abendlandes eine zentrale Stelle zu. Der von Habermas oft beschworenen „postkonventionellen“ bzw. „posttraditionellen Identität“ weist er Inkonsistenz nach und beruft sich stattdessen auf Alain Fienkelkraut, der seinerseits bemerkte, dass es den von aller Zugehörigkeit unberührten Menschen, der aller Vergangenheit ledig, dass es den unabhängigen Menschen ohne Schulden, Verpflichtungen und fortzuführendes Erbe, nicht gebe[3].

Rückbesinnung auf die kulturellen Errungenschaften Europas umfasst nach Flaig auch, die enorme Bedeutung anzuerkennen, welche die Wissenschaft und die wissenschaftliche Wahrheit in der westlichen Kultur spielt, etwa im Gegensatz zu der islamischen Welt. Auch die Separierung der politischen Sphäre von den anderen Kulturellen Bereichen sei in den abendländisch geprägten Gesellschaften einzigartig, ebenso wie die Fähigkeit zur Autoreflektion und Selbstkritik. Als eine Achillesferse der westlichen Kultur sieht Flaig allerdings, dass die europäische Kultur sich im Gegensatz zu anderen Kulturen, was das Vorantreiben des Universalismus betrifft, am stärksten radikalisiert habe:

Unter Bedingungen einer Globalisierung, die sich gegen den menschenrechtlichen Universalismus entschieden sträubt – denn sie klagt dessen Klauseln radikal einseitig nur gegen den Westen ein –, ist es selbstmörderisch geworden, dieser geistigen Tendenz in unserer Kultur freien Lauf zu lassen.

Flaig betont in diesem Zusammenhang die Rolle von Kunst und Literatur in der politischen Diskursgestaltung und in Bezug auf die Kontrolle der politischen Macht. Als wesentlich sieht Flaig das Nachdenken über das Gegenteil von dem an, was es bei uns nicht gibt, nämlich extreme Unfreiheit. Nur, wer sich bewusst mache, dass er die Errungenschaften und hohen Güter unserer Kultur, wie etwa Handlungs- und Meinungsfreiheit nur deswegen heute genießen könne, weil diese durch die abendländische Kultur hervorgebracht wurden, könne diese Kultur auch wertschätzen und wissen, was ihm droht, wenn er sie verliert oder sie im Namen von selbstvergessener Alltoleranz verspielt.

So kommt der Autor zum Ende seines buchlangen Essays auf die Pflicht zur kulturellen Dankbarkeit zu sprechen, und zwar aus der Sorge, dass man die Demokratie nicht bewahren kann, wenn man nicht mehr weiß, auf welcher kulturellen Grundlage sie beruht. Die Postmoderne wiegt sich im Glauben, der kulturellen Vergangenheit nichts zu verdanken. Dieser Glaube verunstaltet die Reste historischen Wissens. Den Horizont des Bewusstseins verengend auf bloße Synchronie, versetzt er dieses in kümmerliche Eindimensionalität und macht es damit wehrlos gegen jedwede Geschichtsklitterung. In diesem geistigen Zustand ist keine Demokratie zu halten … .

In der „kulturellen Dankbarkeit“ sieht Flaig schließlich auch so etwas wie einen die Gesellschaft zusammenhaltenden Kitt. So nimmt es denn auch nicht Wunder, dass der kulturbewusste Autor sein Werk mit der letzten Strophe von Hölderlins Gedicht Lebenslauf abschließt:

 

Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,

Dass er, kräftig genährt, danken für Alles lern`,

Und verstehe die Freiheit,

Aufzubrechen, wohin er will.

 

 

[1] Flaig E. Weltgeschichte der Sklaverei. CH Beck; München, 3., durchgesehene und erweiterte Edition, 2018

[2] Popper K. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Mohr Siebeck; Tübingen 8. Edition 2003

[3] Fienkelkraut A. L’ingratitude. Conversations sur notre temps, Gallimard Paris 1999

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Egon Flaig. WAS NOTTUT. Plädoyer für einen aufgeklärten Konservatismus (Manuscriptum) München, 2020. 173 Seiten. 19,90 €

Kai Bleifuß - Träumen im Steilhang
Eine Würdigung von Amadé Esperer

Weitgehend unbemerkt vom Literaturbetrieb erschien 2019 Träumen im Steilhang, ein stilistisch, und auch ästhetisch hochinteressantes Buch, auf das wir unsere Leser wegen seiner avantgardistischen Textpräsentationen mit einer kurzen Würdigung aufmerksam machen möchten.

Das Buch betritt stilistisches Neuland insofern als es an figurierte Poesie erinnernde Visuelle Prosa bietet. Die Lyrik kennt die optische Gestaltung von Gedichten ja schon seit der Antike, von wo uns etwa Umriss- oder Gittergedichte überliefert sind. Und natürlich kennen wir solches auch aus der Barockzeit, als kreis-, trichter- und herzförmige Gedichte, um nur einige Formen zu nennen, in hoher Blüte standen. Figurengedichte standen später auch bei DADA im Mittelpunkt und seit den 1950er Jahren auch in der „Konkreten bzw. Visuellen Poesie“. Seither ist der Strom an geometrisch gestalteten Gedichten nicht mehr abgerissen, und es finden sich immer wider Lyrikbände mit visuell gestalteten Gedichten.

Figurenprosa aber ist noch nicht so geläufig und begegnet einem eher selten. Obschon Bleifuß die figurierte Prosa nicht erfunden hat, bildet sein Buch doch wegen der Intensität, mit der hier die Texte opto-artistisch zu einem Erlebnisraum gestaltet werden ein Novum. Was etwa die Autorenngruppe PENG[1] in den 1980er Jahren mit literarischen Open-Air-Installationen  in Deutschland erstmals unternommen hat, das entwickelt Bleifuß hier weiter zu einem in Buchform transportablen Gesamtkunstwerk aus Text-Bildern und Bildern mit Texten. Dabei werden manche sprachlich an sich schon dichten Texte durch die optische Formung als Textschnipsel durch bestimmte Geometrien noch dichter und noch schneller. In anderen Fällen wiederum sorgen langbogige, weiche Konturierungen für ein Ritardando des Lesetempos. Die geometrische Gestaltung der Texte bewirkt hier also, was beim Gedicht etwa Zeilenlänge und Zeilensprung bewirken.

Zusätzlich bringt die geometrische Formung bzw. Verformung, und die farbliche Gestaltung der einzelnen Textschnipsel auch eine ästhetische Komponente ins Spiel und hebt insgesamt das ästhetische Vergnügen.

Eine weitere, in ihrer Bedeutung gar nicht zu überschätzende Eigenschaft eignet der geometrischen Text-Gestaltung auch dadurch, dass sie eine optische Zusatzdimension ins Spiel bringt, die die Textinhalte der einzelnen Geschichten kommentiert und letztlich metaphorisch weitet. Anders gesagt, mit der ästhetisch gelungenen, formalen Verquickung von Text- und Bildersprache spielt der Autor in äußerst inspirierter Weise, indem er das Text-Bild-Material als Einheit erachtet und gleichberechtigt mit der Textsemantik so einsetzt, dass die Textaussage durch die optische Gestaltung nicht nur einen ästhetischen, sondern auch einen inhaltlichen Mehrwert erhält.

Der Autor spielt auf diese Art natürlich auch gewaltig mit unseren eingeschliffenen linearen Lesegewohnheiten. Indem wir seinen Geschichten mal entlang einer gerundeten, mal entlang einer komplex verschachtelten Textgeometrie folgen müssen, mal auf an Hieroglyphen erinnernde Text-Inseln geführt werden und von Insel zu Insel hüpfen müssen, oder indem wir uns von einer  leuchtenden Farbkugel zur nächsten in einem schwarzen Universum fortbewegen müssen. Stets lockt uns die Geschichte wieder auf einem anderen, noch originelleren Lesepfad in ihr Geheimnis. Wollen wir also wissen, was in einer der 28, teils noch in sich untergliederten Kurzgeschichten des Bandes steht, müssen wir, mit den Augen hin und her springen, das Buch mal nach rechts, mal nach links bewegen oder gar ganz auf den Kopf drehen. Jede Geschichte wird so durch ihre spezifische Text-Optik zu einem eigenen kinetischen Erlebnis.

Etwa die Geschichte Druck, deren eine Untergeschichte von einem Backwettbewerb handelt. Hier begegnet uns das Textbild in sinnfälliger Weise als rautenförmiges Tortendekor, das aus rot- und schwarzgefärbten Sätzen erzeugt ist, wobei die roten Sätze, die Seitenlängen der Rauten, die schwarzen die Rautenflächen bilden. Wenn man sich kreuz und quer durch dieses Rautenmuster liest, merkt man schnell, dass die schwarzen Rautenflächen Dialog- oder Gedankenfetzen von einzelnen Wettbewerbsteilnehmern transportieren:

ja doch / gleich wieder die / Klatsche. Otto hat ein Haar / am Kragen. Und sagt / etwas,  

oder:

Antonia / Pokerface! Vor ich/ren Augen zieht ihr ganzes / konditorisches Leben / vorbei.

Die roten Sätze dagegen, die jeweils quer über die „Torte“ laufen und die einzelnen Rauten gegeneinander abgrenzen, bilden den Kontrapunkt dazu und lesen sich als kommentierende oder fragende Jurorenstimmen. Während die Juroren begutachtend von Teilnehmer zu Teilnehmerin gehen, hören wir sie Sätze äußern wie:

 

„Die Kante könnte ordentlicher sein, aber sonst …“ „Ist das Mokka?“ „Ja gut, schneiden wir das Ding doch mal an!“…! Aha. ist das Mokka?“ „Schön. Sehr sauber gearbeitet

 

Der Leser wird so, indem er sich durch die Tortenverzierung liest, direkter Augenzeuge des Begutachtungsvorgangs  der von den Wettbewerbsteilnehmern gefertigten Kuchen und Torten und hat das Gefühl dem Wettbewerb „live“ beizuwohnen:

 

Bei der Geschichte Übersetzungen erfährt der Leser den Inhalt der Geschichte, indem er mit den Augen von Text-Insel zu Text-Insel hüpft, wobei jede Textinsel die Form einer bestimmten Hieroglyphe hat. Hierdurch gibt uns der Autor optisch den Hinweis, dass mehr in der Geschichte steckt, als diese auf den ersten Blick verbal andeutet, dass der Leser hier also etwas aus der in den Text-Inseln erzählten Geschichte übersetzen muss. Bei der Geschichte handelt es sich nämlich um den Traum einer Schülerin, bei dem sich, wie das mit Träumen so ist, Widersprüchliches gleichzeitig abspielt. Dass wir das im Text Gesagte also nicht eins zu eins zu nehmen haben, sondern in einzelne Bilder übersetzen müssen, aus dem sich ein Gesamtbild auf der Sinnebene ergibt, das nun besser die Sorgen, Wünsche, Ängste des Mädchens ausdrückt, wird uns durch die hieroglyphenartige Textdarbietung nahegelegt.

Träume sind verschlüsselte Botschaften, ähneln den ägyptischen Hieroglyphen von archäologischen Ausgrabungen und geben ihre Bedeutung erst Preis, wenn man, wie der Titel der Geschichte anzeigt, adäquate Übersetzungen gefunden hat, wobei es meist mehrere Übersetzungsmöglichkeiten gibt. Das alles sagt uns der Autor in dieser Text-Bild-Kollage. Er bietet durch die spezifische Textgestaltung sozusagen einen optischen Metakommentar zu dem Inhalt der im Text erzählten Geschichte, ohne die Geschichte sprachlich durch einen auktorialen Erzähler kommentieren lassen zu müssen. Das ist ein raffinierter stilistischer Kunstgriff, der zeigt, wie man heute eine Geschichte glaubhaft erzählen kann, ohne sich einerseits den Einschränkungen der Ich-perspektivischen und andererseits den Zwängen der auktorialen Erzählweise beugen zu müssen.

Bei der Geschichte Kaleidoskop oder Treffpunkt der Logiken fällt der optische Kommentar wieder anders aus. Hier folgen wir im Text lesend einem Touristen, der auf einer Hotelterrasse mit Blick auf Strand und Meer frühstückt und sich unter anderem mit einem jungen Spanier in ein ziemlich absurdes Gespräch verheddert. Gleichzeitig gleitet aber unser lesender Blick an der sich Zeile für Zeile ändernden linken Textgrenze entlang, so dass wir durch die Textgeometrie bei der Rezeption des Textinhaltes das Gefühl bekommen, einem harmonisch geschwungenen Küstenstrich zu folgen:

Durch die bikiniförmig gestaltete, eine Bucht imitierende, Textform kommt beim Lesen Strandgefühl auf, und durch die Rotbetonung der Rundungsspitzen, wird sogar der Gedanke an eine Bikini tragende Badende evoziert. Die opto-artistische Textgestaltung trägt hier in eleganter Weise zu einer Mehrfachkodierung des Subtextraumes bei. Hätte der Autor dies alleine durch sprachliche Mittel zu bewerkstelligen versucht, wäre ein umständlicherer und längerer Text die Folge gewesen, der den Textinhalt seines absurden Flairs beraubt hätte.

Als weiteres Beispiel für das ungewöhnlich inspirierende Lesevergnügen, das einem der Band Träumen im Steilhang bereitet, sei die Geschichte Die Welt ist anders hervorgehoben. Diese etwas längere Geschichte schildert in sieben Makroschnipseln sieben unterschiedliche Sichtweisen auf das aberwitzige Leben eines gewissen Sven Gustavsson, der Vorstandsmitglied eines weltweit operierenden Saatgutkonzerns ist. Gustavsson wird, ohne dass er das weiß, von seiner Frau, einer mal als Sekretärin, mal als Hypnotiseurin, mal als Antonella durch die Texte geisternden zwielichtigen Dame, heimlich im Auftrag des Saatgutkonzerns überwacht. Die Welt, wie sie Gustavsson in sieben Textschnipseln erlebt, teilt sich ihm nicht als überschaubar mit, und setzt sich zunächst auch für den Leser, der beim Lesen der Einzelschnipsel anfangs eine ähnliche Verwirrung wie Gustavsson durchmacht, erst am Schluss der Geschichte als sinnvolles Ganzes zusammen. Dann stellt sich nämlich optisch für den Leser heraus, dass sich die sieben Einzelschnipsel zu einem Mosaik komplettierenden Gesamtbild ordnen und erst so einen klärenden Draufblick auf die von Gustavsson als verworren erlebte Welt erlauben. Hier erreicht Bleifuß also optisch, was man im Drama oder der Oper als „Alla parte Sprechen“ bezeichnet und was im Film in Einblenden gezeigt wird, die den Zuschauer von wichtigen Dingen in Kenntnis setzen, welche der Handlungsheld nicht erfährt. Dies ist eine besondere Form von Ironie, die hier optisch realisiert wird:

Zu guter Letzt möchte ich noch die in Form von farbig leuchtenden Blasen erzählte kleine Geschichte Im All anführen. Die Geschichte spielt in einem großen dunklen Weltall, in dem verschiedene Stimmen über ihr früheres Leben nachdenken, über ihre Beziehungen, über Geglücktes und Versäumtes:

 

… Da war ich um die dreißig, würde ich schätzen, und ich wusste mit der Sicherheit eines Alptraums, dass ich zehn Jahre vorher dieses Mädchen hätte ins Theater einladen sollen. Am nächsten Abend fing es an …. 

 

Die Stimmen erzählen nicht konsistent, sondern lassen die Gedanken in der Art eines ziemlich fragmentierten Bewusstseinsstroms blasenförmig ins All wegschweben, was durch die optische Formung der Texte suggeriert wird, wie das folgende Bild sehr schön zeigt:

 

Die Bleifuß‘schen „In-Libro-Installationen“ widerspiegeln mit ihrer optisch raffiniert in Szene gesetzten neuartigen Erzählweise inhaltlich und formal die aberwitzige Beschleunigung von Lebensabläufen in einer Welt, die sich rasend schnell einer postfaktischen Dystopie zu nähern scheint, aber auch noch ihre retardierenden, schönen Momente hat.

Alles in allem ist Träumen im Steilhang ein äußerst inspirierendes „steiles“ Lesererlebnis für jeden, den schöne Farben und Formen ansprechen, der Surreales, Witziges, Ironisches und Unterhaltendes, aber auch Dystopisches in kürzeren und sehr kurzen Geschichten sucht. Er wird hier unbedingt fündig.

 

Copyright-Hinweis: Text © Amadé Esperer; Abbildungen © Kai Bleifuß

 

 

[1]   PENG ist das Akronym aus den Anfangsbuchstaben der Nachnamen der Gründer der Künstlergruppe: Lou A. Probsthayn, Reimer Boy Eilers, Nicolas Nowack und Gunter Gerlach.

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Kai Bleifuß. Träumen im Steilhang (Modo Verlag) Freiburg i.Br., 2019. 280 Seiten. 34,00 €

Amadé Esperer - Im Auge lacht der Augenblick
Rezension von Anna Siy

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Man staune und lese, ein deutscher Verlag, nämlich der in Bamberg ansässige Erich Weiß Verlag, hat es tatsächlich gewagt, Flash Fiction-Geschichten herauszubringen. Glückwunsch Herr Weiß! Sie wissen offenbar etwas mit diesem aufregenden Genre anzufangen und haben es gleich mit einem ganzen Band gewürdigt. Allerdings ist der Autor ja auch kein unbekannter, wenn gleich es für Amadé Esperer, der bislang vor allem als Vollblutlyriker bekannt war, doch ungewöhnlich ist, sich mit diesem Band in die Gefilde der Prosa begeben zu haben. Aber er hat sich ja durchaus wählerisch in der Prosalandschaft umgesehen und sich des derzeit wohl reizvollsten Prosagenres, nämlich der Flash Fiction bedient, und, als wäre das nicht schon innovativ genug, ihr nicht selten neue Dimensionen abzugewinnen verstanden.

Überzeugend gelingt es Esperer, die Flash Fiction-Geschichte, die im amerikanischen Schrifttum allzu oft handlungshysterisch und nüchtern narrativ daherkommt, in eine ureigene, lyrisch inspirierte Sprache zu kleiden, in welche die Ornamentik von magischem Realismus ebenso eingearbeitet ist wie sprachspielerischer Witz, lebensphilosophische Ironie und weltoffene Neugierde.

Die 65 Geschichten sind nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch von einer solchen poetischen Wucht, dass einem beim Lesen vor Vergnügen der Atem rascher und der Puls schneller gehen. Plötzlich bietet sich ein ungeahnter Blick auf Welt und Mensch: Jede Tatsache siehst du zum Schweben gebracht, heißt es da in einer der Geschichten, und dies ist auch der rote Faden, der sich durch diese Flash Fiction-Serie zieht. Jede Geschichte hat ihr geheimes Leben, ihr Unerwartetes, Unberechenbares, das uns in einen Sog hineinzieht, den wir nicht für möglich gehalten hätten, jede hat ihre eigene Tonart, mal meditatives Moll, mal triumphales Dur, alle aber strahlen die Wärme einer liebevollen Grundhaltung der Welt und ihren Bewohnern gegenüber aus.

Ob Liebelei oder absurde Begegnung, ob skurrile Kurzbekanntschaft oder ungewöhnlicher Back-Stage-Besuch, stets gelingt es dem Autor, uns auf sprachlich höchstem Niveau zu verführen, aus ungewöhnlichen Perspektiven eingeschliffene Erlebnisroutinen zu durchbrechen und zu den Kernen von Wahrheit und Schönheit vorzudringen, hinter all der zeitgeistigen Oberflächlichkeit, all dem Hässlichen und Verstörenden. So wird etwa aus einem nüchtern-physikalischen Phänomen wie den Newton Ringen eine Epiphanie des Schönen:

Ich kann mich nicht beklagen, die Sonne wärmt auch mich trotz eisiger Minustemperaturen hier unten in der Straßenschlucht. Ich wünsche mir ein langes Wochenende und streiche um die seichten Pfützen, auf denen ölig schillernd Newtons Ringelblumen blühen, als sei der Frühling ausgebrochen …

In der Geschichte Suche werden wir Zeugen einer beginnenden Romanze mit Descart’schem doppelten Boden:

Sie saß am Gegenübertisch, nicht schlank, nicht unschlank, elegant mit hell aufglucksender Minzenfrische im Sinn. Er konnte ihren Anblick nicht ertragen, noch weniger das Fehlen ihrer Gegenwart, stand auf und ging hinauf in sein Zimmer. Dort fiel er in einen leeren Sessel und in tiefe Gedanken. Ein Klopfen holte den schlaflos Hin- und Herdenkenden an die Türe: SIE …

Auch lässt der Autor uns teilhaben, wenn es um die Belauschung der geheimen Erotik der Schöpfung geht:

Versunken saß er unter der Decke der Zeit. Beobachtend den Umkleidewunsch der Schöpfung: An den Händen und Füßen war sie schon nackt, aber ihr Torso war noch verhüllt, ihr Gesicht mit blickdichten Tüchern drapiert. Sie schlangen sich wie Nebelstoff um ihre Hüften, ihren Hals, ihr Antlitz, und bevor man sich’s versah, war sie schon wieder nach hinten verschwunden. Er hatte den brennenden Wunsch, sie als Ganze zu sehen. Zuviel hatte er schon gehört und gelesen von ihren wohlproportionierten Maßen, dem goldenen Schritt und so weiter…

Vielen von Esperers Flash Fiction-Geschichten eignet auch deswegen ein besonderer Esprit, weil sie doppelt kodiert sind, sich unter der Oberfläche intertextuelle Hinweise auf andere Werke von Kunst und Literatur verbergen, die der Geschichte eine ästhetische Zusatzdimension verleihen. So verweist etwa Frau am Fluss nicht nur auf ein berühmtes Bild Baldung Griens, sondern auch auf John Donnes No Man is an Island und Simon und Garfunkels Lied I Am a Rock:

Wie eine Hexe von Baldung Grien sah ich sie sitzen, unten am Fluss in Gedanken versunken, sah ich sie, gehüllt in den grüngelben Mantel Melancholie … Sie war ein Fels und eine Insel, and a rock feels no pain, and an island never cries.

Die Geschichte Ody sehen gar führt uns vor, dass sich die Hunderte von Seiten umfassende Odyssee auch in der Kürze einer amüsant erzählten Flash Fiction in allen wichtigen Aspekten mit philosophischem Hintersinn und sogar ironisch hinterfragend erzählen lässt. Nicht nur dass Odysseus mit seinem Schöpfer Homer zusammentrifft, er begegnet sogar seiner neuzeitlichen Inkarnation Leopold Blum bzw. dessen Frau Molly: Eben fingerte schon die Sonne hektisch den Horizont ab wie eine nackte Ungeduld, da sah ich den blinden Dichter in der hintersten Ecke der Bar vor seinem letzten Glas, versunken in den abnehmenden Rest von Whiskey und Nacht. Ich fragte ihn nach Ody, Odisses, Ulyxes oder Leopold. Er verneinte und kannte ihn ebenso wenig wie Molly … ; auch ein Literatur-Kritiker tritt hier auf und nimmt sich selbst auf die Schippe, wenn er sagt: Nur ein Spinner glaubt ihre Epen und hält sie für Weltliteratur. Wie jener Herakles, von dem der Spruch stammt: Du steigst nie zweimal in dasselbe Bett. Allerdings hat der Kritiker nicht nur Herakles mit dem den guten alten Heraklit verwechselt, sondern muss letzteren auch kräftig missverstanden haben, denn Heraklits berühmtes Dictum über die Fluktuation allen Seins ist nicht auf ein erotisches Lotter-Bett, sondern allenfalls auf das Bett eines Flusses gemünzt.

Es finden sich auch ein paar unverblümt zeitkritische Flashs unter den Geschichten, welche etwa Adornos sich selbst verschlingende Theoriegewächse ebenso aufs Korn nehmen, wie neuere Auswüchse von Genderismus und postfaktischer Geschichtsklitterung, oder politische Pseudokorrektheiten und Omnipotenzallüren akademischer Errettungsphantasten:

Ich hatte Glück und fand, ohne lange suchen zu müssen, auf Anhieb das universitäre Halbinstitut, die zweite Hälfte des Gebäudes ragte in einen unauflöslichen Nebel über dem Wasser. Wie auch immer, das waren Äußerlichkeiten. Mir ging es einzig um den Leiter des Halbinstituts, den Erwecker … Trotz meines langen Wartens sah ich den Erwecker nicht … er ließ mir ausrichten, er sei nun, von seinen universitären Verpflichtungen gänzlich befreit, unverzüglich über die Grenze ins Ausland verreist, und zwar in all seinen potentiellen Diversitäten und mit ebenso vielen Leibwächtern …     

Manchmal verkriecht sich die Welt in ein Wort, oder eine Unterhaltung fällt in das tiefe Loch Humor beim Polyglotten, und immer wieder geht es durch die Straßenschluchten modernen Zusammenlebens, das manchmal kindlich naiv bestaunt, manchmal ironisch, manchmal hymnisch, manchmal auch ironisch-hymnisch besungen wird: … und wäre nicht das bisschen Unkraut da, das bisschen Unkraut, dann wäre dieser Ort ein kolossaler Unort, eingeklemmt in Straßenschluchten, Abfallhalden, Abendland und Morgenland

Immer wieder überraschen auch unerwartete Wendungen mancher Geschichten, wenn etwa das Witzige, das Freche oder das Ironische zu changieren beginnt, so dass man unversehens in unmittelbare emotionale Betroffenheit gerät.

Ich gerate jedes Mal aufs Neue in Verzückung, wenn ich in dem schon äußerlich sehr ansprechenden Buch lese, möchte aber die Leser jetzt wirklich nicht länger von der Lektüre dieser köstlichen Flashs abhalten und schließe mit dem Statement: Der Verblüffung sind keine Grenzen gesetzt, auch nicht den teils aberwitzigen teils hochpoetischen Wortschöpfungen und Satzgebilden, von denen es nur so wimmelt, wie etwa schattenverdorbene Haut, glossolalische Gedankenklumpen, oder dunkle Wandelaugen und Sätze wie Sie war eine Einheimische und hatte ein RestherzMein Freitag ist der Frauenmund, der nun sein Ohr gefunden hat oder Kein Heißsporn hat es denn auch je weiter geschafft als bis zur Hälfte der Kreiszahl piIch bin Roberto, und man hält mich schon lange für tot. Nicht zuletzt, weil meine Gegner noch unschlüssig sind, ob ich noch lebe, lebe ich noch…oder: Seine Tugend bestand in einem einzigen Laster: Immer der zu sein, von dem er annehmen konnte, dass die anderen dachten: Das ist typisch Paul.

Das ist ein wunderbares Buch!

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Amadé Esperer. Im Auge lacht der Augenblick. Bamberg (Erich Weiß Verlag) 2020. 114 Seiten. 12,00 Euro

 

 

 

Nora Gomringer - Gottesanbieterin
Rezension von Amadé Esperer

Nora Gomringers neuer Lyrikband „Gottesanbieterin“ gibt sich zwar in Titel und Einteilung mit ominös benannten Kapitelüberschriften, wie etwa „Das Buch Timm“ oder „Zeugnis“, wie eine Art Brevier, schlägt man jedoch die Gedichte in den einzelnen Kapiteln nach, so verfliegt rasch der Eindruck eines erbaulichen Stundenbuchs. Vielmehr sieht man sich umringt von lyrischen Geschöpfen, die einem in gewohnt Gomringer‘ scher Sprachverspieltheit allerlei zuraunen, zurufen, ja sogar zuschreien, aber auch anvertrauen, und zwar in allen möglichen Tonlagen, die vom nachdenklich Meditativen bis zum keck Saloppen, vom privat-Reflexiven bis zum lauthals Extrovertierten und politisch Engagierten gespannt sind.

Und doch geht von diesem Gedichtband, trotz aller Ausgelassenheit mancher Texte, eine meditative Aura aus, die sich wie ein roter Faden durch alle Kapitel zieht. Nach Lektüre bzw. Genuss des Bandes, bleibt nicht nur das Gefühl, einer Meditation beigewohnt zu haben, sondern dabei auch Gesänge gehört zu haben. Denn es ist Gomringer gelungen ist, nicht nur aus Sorgen Gesänge werden zu lassen, wie es sinngemäß in der letzten Gedichtzeile von Man siehst, heißt, sondern auch aus Trauer und Verlust, aus Freude und Übermut, aus Zweifel und Vertrauen eine vielstimmige Musik zu machen, darunter gewaltige Choräle, wie etwa das leitmotivisch durchkomponierte Gedicht Annahme über Michael Lentz oder das großartige, Arvo Pärt gewidmete, Stabat Mater, in dem sie es tatsächlich schafft, poetisch die feinsinnige Musik des Komponisten nachzuzeichnen. Aber auch lichtdurchflutete Litaneien hören wir, wie beispielsweise in dem Zentralgedicht Wichtige Dinge und dem krönenden Abschlussgedicht Applaus, das als veritables Credo die in dem Gedichtband veranstaltete „lyrische Messe“ würdig ausklingen lässt:

 

Ich bin die Christin

Mit dem Schandfleck am Knie,

das ich aufschlug, nicht aufrieb im Dienst.

….

Ich bin die Christin,

die beim Chatten nach Fotos von Händen fragt,

so ungläubig ist sie.

….

 

Ich bin die Christin,

die nach Kunst in der Kirche fragt.

Ich bin die Christin,

die durch die Riten die Rätsel annimmt.

Ich bin die Christin,

die bewundert, wenn einer aus dem Schrank steigt, der ihn eingesperrt hielt,

ich bin die Christin,

die ernst macht mit der Liebe für den immer Nächsten

Ich bin die Christin,

die an zu viel Weihrauch, nicht an zu wenig sterben möchte

Dieses „Credo“ ist, wie denn auch der ganze Band, ein mutiges Coming Out der Dichterin als Christin in einer Zeit, deren Geist alles andere als christlich gestimmt ist, deren (Zeit)Geist heimgesucht ist von massenhafter Bilderstürmerei und leibhaftiger, weltweiter Christenverfolgung, deren (Zeit)Geist in den fortschrittlichen Demokratien immer noch an Nietzsches Erbe laboriert oder vom Messianismus und den Hirngespinste intellektueller Salonrevoluzzer geplagt wird, die trotz der Millionen Toten in den Gulags, aus ihrer Wohlstandsperspektive heraus, immer noch vom angeblich intrinsisch friedfertigen Marxismus als erstrebenswerter Utopie faseln.

Überzeugend tritt die Dichterin als Gottesanbieterin, so ja auch der Name des Gedichtbandes, in Erscheinung. Allerdings nicht anbiedernd oder frömmelnd, sondern selbstbewusst modern, mal affirmativ, mal subversiv, denn auch das gehört zu ihrem Glaubensbekenntnis:

Ich bin die Christin,

die die weißen Westen der Diener Gottes anschwärzt

Zu ihrem Credo gehört auch, Missstände und Probleme in den vielen zwischen die großen „Gedichtgesänge“ eingestreuten „Zwischengesängen“ zu thematisieren. Diese Zwischengesänge sind denn auch alles andere als erbaulich und lesen unserer Zeit ziemlich die Leviten. So das seriell durchstrukturierte als Naturgedicht bezeichnete Naturgedicht, das durch den in Englisch gehaltenen Refrain My body so ample / so wide, like a fucking landscape strukturtiert wird und den Ton eines Klageliedes anstimmt:

 

My body so ample,

so wide, like a fucking landscape

kein wunder, dass sie auf mich treten

lieg ich doch weit und breit vor ihnen ausgestreckt

my body, so ample,

so wide, like a fucking landscape

kommen mit turbinen, windrädern

und solarzellen, checken aus, wo ich am hellsten leuchte

my body so ample,

so wild, like a fucking landscape

my body, so ample

so wild, like a fucking landscape

 

Der wohlkalkulierte Kontrast zwischen den Refrain-Brocken, die aus einem „Backseat Freestyle“-Song von Kendrick Lamar stammen könnten, und den dazwischen gestreuten deutschen Textpassagen, welche heißesten umweltpolitischen Tobak transportieren, lädt dieses kleine Gedicht mit einer so großen Sprengkraft auf, dass sich seine ganze Wucht beim Lesen überträgt. Das ist beste performative Lyrik! Und davon wimmelt es in diesem Band. Die Kunst der Dichterin besteht nicht zuletzt darin, auch philosophisch-theologische Inhalte zu performativen Ereignissen werden zu lassen, wie beispielsweise in dem Gedicht Von der Begehbarkeit des Herzens, wo es heißt:

So wird durch einen Besuch an einem Nachmittag im Mai

Die Unsicht- und auch Unfassbarkeit,

die Unhaltbarkeit und das Abgleiten, Verderben des Gefühls,

das wir nicht fassen, sehen, konservieren können,

ein für allemal bewiesen.

 

A Priori gab es kein was zu beweisen war.

 

Als dezidiert politisches Gedicht liest sich das unscheinbar betitelte Ging einer zur Arbeit. Es hat die Anmutung einer Elegie und besticht durch seine psalmartige Struktur. Sie hat es zu Ehren und im Gedenken an die vor fünf Jahren von islamischen Fundamentalisten ermordeten Zeichner und Mitarbeiter des scharfsinnigen Pariser Satiremagazins „Charlie Hebdo“:

 

Ging einer zur Arbeit

hob den Stift

setzte ihn an

holte weit aus

zog einen Strich

Wissen doch alle

die gehen zur Arbeit

dass sie darin umkommen können

in diesem Hier und Jetzt

wenn sie den Stift heben

Waren zwei

die so alt sind wie ich

 

Mit Füßen in einem anderen Jetzt

in genau diesem Hier

 

Ging einer zur Arbeit

hob einen Stift

 

Ist dafür umgekommen

 

Je suis Cahrlie. Jan 2015

 

 

Die meisten der in diesem Band versammelten 49 Gedichte sind formal ziemlich frei mit wechselnden Zeilenlängen und Metren gestaltet, wobei nicht selten Zeilenstil überwiegt. Viele Gedichte verraten jedoch schon optisch einen genau durchstrukturierten Bauplan, der absichtsvoll den jeweiligen Text beherbergt. Beispielsweise das monumentale Gedicht Beim Blick auf dieses Grab, das aus drei Strophen aufgebaut ist. Während die ersten beiden Stropen, wie zwei große Blöcke symmetrisch gegen einander gesetzt, aus fast gleich vielen nicht endgereimten Zeilen bestehen, die spiegelbildlich um die als Symmetrieachse dienende Lücke zwischen erster und zweiter Strophe angeordnet sind, fällt die dritte Strophe aus dem Rahmen. Sie besteht lediglich aus einem Vierzeiler, der kreuzgereimten Endreim aufweist und abwechselnden aus Vier- und Dreihebern komponiert ist.

Die beiden wuchtigen Strophen eins und zwei bilden formal offenbar den Grabstein ab, auf den, wie der Titel des Gedichts verrät, der Blick gerichtet ist, während die zierlich sich ausnehmende dritte Strophe wie ein i-Tüpfelchen auf die meditativen Gedankengänge der ersten beiden Strophen gesetzt wirkt. So verdeutlicht die Dichterin witzig ironisch die innere Distanz der lyrischen Sprecherin zu den gewichtigen Assoziationen, die ihr angesichts der wuchtigen Grabblöcke auf einem Friedhof durch den Kopf gehen. Wie ein befreiendes Stoßgebet wirkt dieses Schluss-Quartett der letzten Strophe, das einen Einblick in das Selbstverständnis der lyrischen Sprecherin gibt:

 

„Auch bet ich ihn von Herzen an,

Daß ich auf dieser Erde

Nicht bin ein großer, reicher Mann,

Und auch wohl keiner werde.

 

Die bewusst altertümelnde Sprache mit invertierter Syntax bewirkt, dass man das Quartett als religiöses Danklied verortet. Es könnte aus dem Gotteslob stammen und nimmt sich der Gesamtkonstellation des Gedichts doch wie ein ironischer Kurzkommentar zu all dem vorher Gesagten aus, das dem lyrischen Ich in einem „Stream of conciousness“ angesichts des von so viel Tod auf dem Friedhof durch den Kopf schwirrt und sich wie ein emotionaler Parforceritt durch heilsgeschichtliche Grashalme und liturgische Tröstungsfetzen gleichkommt:

 

Etwa ein Viertel der Gedichte in diesem Band sind seriell mit Wiederholungselementen strukturiert. Ein Text, Wandlung, ständige Wandlung, sticht als veritables Prosagedicht hervor. Einige kleinere Formen zitieren die „Konkrete Poesie“ à la Eugen Gomringer und lassen sich als Hommage an den Vater der Dichterin verstehen.

Obwohl ich fast über jedes Gedicht ins Schwärmen geraten könnte, muss ich mich aus Platzgründen beschränken, möchte aber doch noch aus zwei Gedichten zitieren, die es mir besonders angetan haben. Da ist zum einen das liebenswürdig ironische, voller übermütiger Binnenreime steckende Liebesgedicht Kleine Anzeige III, das in flotter Sprache daher kommt:

Ich hab‘ dich getindert. Ich hab dich gelikt.

Wir haben gechattet. Wir sind gejettet.

Sie lachten über uns und wir hieltens aus.

Hast mir gefallen im Schaum. Hast mir gefallen im Feuer.

Unsere E-Mail heißt Amor und wenn wir „versenden“,

schickt er Vektoren. Von außen besehen

sind wir ein schönes Paar. Die InStyle, die Gala, die Bunte

die nicken und schicken nen Obstkorb an unsere Adresse.

Wenn du den Kindern mal erzählst, wie du ihre Mutter kennen-

Lerntest, sag: Es war Mittwoch, ein Tag auf der Milchstraße.

Sie lief und alle drehten sich nach ihr um.

 

 

Hier wird im Jargon der Smart-Phone-Generation auf die lange Tradition der europäischen Liebeslyrik Bezug genommen, nur dass in Gomringers Gedicht Amor keine Pfeile, sondern vektorisierte Bilder abschießt, Venus Mars per Internet tindert, und Mars Venus per Facebook likt. Hier tun sich natürlich auch gewisse Fallen des Denglisch-Jargons auf. So kann man sich fragen, ob die Dichterin „likt“, nicht besser als „liked“ oder „laikt“ hätte wiedergeben sollen. Andererseits legt „likt“ auch das Wort „lick“ (lecken) nahe, was ja in einem Liebesgedicht durchaus als erotischer Hinweis angebracht sein kann.

 

Und nun zu guter Letzt noch eine Bemerkung zu dem poetologisch reflektierenden, mich an Rilkes Archaischer Torso Apollons erinnernde Gedicht Das Vergessen hat die Zähne eines Haifischs, in dem es heißt:

Da gibt es keine List und kein Verstecken. Die sehen mich,

 

die wissen von der Sprache, die ich für dich sprach,

von den Wörtern, aus denen ich das Sprechen löste.

Die sehen auch, wie angefressen, wie wenig ich geworden bin.

 

Sie sagen: Das Vergessen hat die Zähne eines Haifischs.

Ich tippe dir leise: das Erinnern auch.

 

 

Nicht nur diese beiden zuletzt genannten Gedichte belegen, dass „Gottesanbieterin“ nicht exklusiv auf Theologisch-Religiöses und Philosophisch-Politisches-festgelegt ist, sondern spielerisch aus dem vollen Füllhorn der abendländischen Lyrik schöpft und die großen, seit der klassisch-griechischen Dichtung immer wieder variierten Themen, Liebe, Eros, Ich und Du, Du und Wir, Abschied, Tod und Transzendenz in der Sprache unserer Zeit auf poetisch überzeugende Weise zum Klingen bringt. Letzteres sogar wortwörtlich in Form einer dem Band beigegebenen CD -Sprachaufnahme mit Original-Gomringer-Sound.

Gottesanbieterin ist ein durch und durch gelungenes, höchst inspirierendes Werk.

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Nora Gomringer. Gottesanbieterin (Voland & Quist GmbH) Berlin, Dresden, Leipzig, 2020. 95 Seiten mit CD, 20,00 €

 

 

 

Verena Nolte - Der Milchkrug
Rezension von A. Allergold

Die Münchner Autorin Verena Nolte hat in dem aufwendig gestalteten und großzügig bebilderten Buch „der Milchkrug“ das Leben von Paula Morandell nach deren Erinnerungen und anhand von Briefen nachgezeichnet. Ist im Grunde die Lebensgeschichte eines jeden Menschen interessant und aufschreibenswert, so ist es die von Puala Morandell auf ganz besondere Weise, denn es ist nicht nur eine private Geschichte aus der üblichen Mischung von Glück und Unglück, sondern eine persönliche Geschichte, die eng verwoben und geradezu durch die historischen Zeitläufte definiert ist, eine Biographie also, die stellvertretend für das Schicksal eines ganzen Landes steht.

Einfühlsam und sprachlich gekonnt schildert Nolte das Schicksal nicht nur von Paula Morandell, sondern auch von deren weit verzweigter Familie, die aufs engste mit dem ebenso dramatischen wie tragischen Schicksal von Südtirol verknüpft ist.

Dabei lässt die Autorin Paula quasi als Fremdenführerin den Leser durch die vielfältigen Wege, beschwerlichen Umwege, versperrten Rückwege und manchen Abweg der Morandellschen Dynastie geleiten. Obwohl man sich manchmal in den allzu vielen Details der Familiensaga zu verlieren droht, führen einen dann doch immer wieder historisch erklärende Passage wie Ariadnefäden zurück auf den Hauptweg des Geschehens und gewähren aus der Privatperspektive von Betroffenen überraschend neue Einblicke in die Weltgeschichte.

Es geht in dem Buch um Heimat, um Flucht und Vertreibung und um Minderheitendasein. Diese werden beispielhaft konkretisiert an der Hauptperson Paula, welche 1934 in dem Südtiroler Dorf Kaltern zur Welt kommt, den Zweiten Weltkrieg in Baden bei Wien erlebt und auf abenteuerlichen Umwegen nach dem Krieg mit Mutter und Geschwistern versucht, in die Heimat zurückzugelangen. Dort erfährt die Protagonisten, ebenso wie die meisten ihrer Landsleute, an der eigenen Haut, was es bedeutet plötzlich nicht mehr im eignen Land zu Hause zu sein, plötzlich zu einer kulturellen Minderheit zu gehören, in einem Staat, der sich um diese Minderheit nicht schert und schon sprachlich ganz anders orientiert ist.

Insofern ist Paulas Geschichte repräsentativ nicht nur für das vergangene, sondern auch für unser Jahrhundert. Und es ist das Verdienst von Verena Nolte, die Protagonistin Paula sich erinnern zu lassen und ihr keine eigenen Geschichtsvorstellungen überzustülpen, wie das leider manchmal bei historischen Biographien zu beobachten ist.

Der Mehrwert dieses Buches liegt vor allem darin, dass durch Paulas Erinnerungen, so wie sie Nolte nachgezeichnet hat, das unwiederbringlich Verlorene vor dem Vergessen bewahrt wird. Das Buch ist somit ein wichtiger Beitrag zur Bewahrung Südtirols im kulturellen Gedächtnis Europas.

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Verena Nolte. Der Milchkrug (Folio Verlag) Wien / Bozen 2020, 256 Seiten, 25,00 €