Reviews
Im Auge lacht der Augenblick
A review by Anna Sia

Im Auge lacht der Augenblick

Anna Siy

Man staune und lese, ein deutscher Verlag, nämlich der in Bamberg ansässige Erich Weiß Verlag, hat es tatsächlich gewagt, Flash Fiction-Geschichten herauszubringen. Glückwunsch Herr Weiß! Sie wissen offenbar etwas mit diesem aufregenden Genre anzufangen und haben es gleich mit einem ganzen Band gewürdigt. Allerdings ist der Autor ja auch kein unbekannter, wenn gleich es für Amadé Esperer, der bislang vor allem als Vollblutlyriker bekannt war, doch ungewöhnlich ist, sich mit diesem Band in die Gefilde der Prosa begeben zu haben. Aber er hat sich ja durchaus wählerisch in der Prosalandschaft umgesehen und sich des derzeit wohl reizvollsten Prosagenres, nämlich der Flash Fiction bedient, und, als wäre das nicht schon innovativ genug, ihr nicht selten neue Dimensionen abzugewinnen verstanden.

Überzeugend gelingt es Esperer, die Flash Fiction-Geschichte, die im amerikanischen Schrifttum allzu oft handlungshysterisch und nüchtern narrativ daherkommt, in eine ureigene, lyrisch inspirierte Sprache zu kleiden, in welche die Ornamentik von magischem Realismus ebenso eingearbeitet ist wie sprachspielerischer Witz, lebensphilosophische Ironie und weltoffene Neugierde.

Die 103 Geschichten sind nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch von einer solchen poetischen Wucht, dass einem beim Lesen vor Vergnügen der Atem rascher und der Puls schneller gehen. Plötzlich bietet sich ein ungeahnter Blick auf Welt und Mensch: Jede Tatsache siehst du zum Schweben gebracht, heißt es da in einer der Geschichten, und dies ist auch der rote Faden, der sich durch diese Flash Fiction-Serie zieht. Jede Geschichte hat ihr geheimes Leben, ihr Unerwartetes, Unberechenbares, das uns in einen Sog hineinzieht, den wir nicht für möglich gehalten hätten, jede hat ihre eigene Tonart, mal meditatives Moll, mal triumphales Dur, alle aber strahlen die Wärme einer liebevollen Grundhaltung der Welt und ihren Bewohnern gegenüber aus.

Ob Liebelei oder absurde Begegnung, ob skurrile Kurzbekanntschaft oder ungewöhnlicher Back-Stage-Besuch, stets gelingt es dem Autor, uns auf sprachlich höchstem Niveau zu verführen, aus ungewöhnlichen Perspektiven eingeschliffene Erlebnisroutinen zu durchbrechen und zu den Kernen von Wahrheit und Schönheit vorzudringen, hinter all der zeitgeistigen Oberflächlichkeit, all dem Hässlichen und Verstörenden. So wird etwa aus einem nüchtern-physikalische Phänomen wie den Newton Ringen eine Epiphanie des Schönen:

Ich kann mich nicht beklagen, die Sonne wärmt auch mich trotz eisiger Minustemperaturen hier unten in der Straßenschlucht. Ich wünsche mir ein langes Wochenende und streiche um die seichten Pfützen, auf denen ölig schillernd Newtons Ringelblumen blühen, als sei der Frühling ausgebrochen …

In der Geschichte Suche werden wir Zeugen einer beginnenden Romanze mit Descratchschem doppelten Boden:

Sie saß am Gegenübertisch, nicht schlank, nicht unschlank, elegant mit hell aufglucksender Minzenfrische im Sinn. Er konnte ihren Anblick nicht ertragen, noch weniger das Fehlen ihrer Gegenwart, stand auf und ging hinauf in sein Zimmer. Dort fiel er in einen leeren Sessel und in tiefe Gedanken. Ein Klopfen holte den schlaflos Hin- und Herdenkenden an die Türe: SIE …

Auch lässt der Autor uns teilhaben, wenn es um die Belauschung der geheimen Erotik der Schöpfung geht:

Versunken saß er unter der Decke der Zeit. Beobachtend den Umkleidewunsch der Schöpfung: An den Händen und Füßen war sie schon nackt, aber ihr Torso war noch verhüllt, ihr Gesicht mit blickdichten Tüchern drapiert. Sie schlangen sich wie Nebelstoff um ihre Hüften, ihren Hals, ihr Antlitz, und bevor man sich’s versah, war sie schon wieder nach hinten verschwunden. Er hatte den brennenden Wunsch, sie als Ganze zu sehen. Zuviel hatte er schon gehört und gelesen von ihren wohlproportionierten Maßen, dem goldenen Schritt und so weiter…

Vielen von Esperers Flash Fiction-Geschichten eignet auch deswegen ein besonderer Esprit, weil sie doppelt kodiert sind, sich unter der Oberfläche intertextuelle Hinweise auf andere Werke von Kunst und Literatur verbergen, die der Geschichte eine ästhetische Zusatzdimension verleihen. So verweist etwa Frau am Fluss nicht nur auf ein berühmtes Bild Baldung Griens, sondern auch auf John Donnes No Man is an Island und Simon und Garfunkels Lied I Am a Rock:

Wie eine Hexe von Baldung Grien sah ich sie sitzen, unten am Fluss in Gedanken versunken, sah ich sie, gehüllt in den grüngelben Mantel Melancholie … Sie war ein Fels und eine Insel, and a rock feels no pain, and an island never cries.

Die Geschichte Ody sehen gar führt uns vor, dass sich die Hunderte von Seiten umfassende Odyssee auch in der Kürze einer amüsant erzählten Flash Fiction in allen wichtigen Aspekten mit philosophischem Hintersinn und sogar ironisch hinterfragend erzählen lässt. Nicht nur dass Odysseus mit seinem Schöpfer Homer zusammentrifft, er begegnet sogar seiner neuzeitlichen Inkarnation Leopold Blum bzw. dessen Frau Molly: Eben fingerte schon die Sonne hektisch den Horizont ab wie eine nackte Ungeduld, da sah ich den blinden Dichter in der hintersten Ecke der Bar vor seinem letzten Glas, versunken in den abnehmenden Rest von Whiskey und Nacht. Ich fragte ihn nach Ody, Odisses, Ulyxes oder Leopold. Er verneinte und kannte ihn ebenso wenig wie Molly … ; auch ein Literatur-Kritiker tritt hier auf und nimmt sich selbst auf die Schippe, wenn er sagt: Nur ein Spinner glaubt ihre Epen und hält sie für Weltliteratur. Wie jener Herakles, von dem der Spruch stammt: Du steigst nie zweimal in dasselbe Bett. Allerdings hat der Kritiker nicht nur Herakles mit dem den guten alten Heraklit verwechselt, sondern muss letzteren auch kräftig missverstanden haben, denn Heraklits berühmtes Dictum über die Fluktuation allen Seins ist nicht auf ein erotisches Lotter-Bett, sondern allenfalls auf das Bett eines Flusses gemünzt.

Es finden sich auch ein paar unverblümt zeitkritische Flashs unter den Geschichten, welche etwa Adornos sich selbst verschlingenden Theoriegewächse ebenso aufs Korn nehmen, wie neuere Auswüchse von Genderismus, postfaktische Geschichtsklitterung, wie politische Pseudokorrektheiten oder Omnipotenzphantasien akademischer Errettungsphantasten:

Ich hatte Glück und fand, ohne lange suchen zu müssen, auf Anhieb das universitäre Halbinstitut, die zweite Hälfte des Gebäudes ragte in einen unauflöslichen Nebel über dem Wasser. Wie auch immer, das waren Äußerlichkeiten. Mir ging es einzig um den Leiter des Halbinstituts, den Erwecker … Trotz meines langen Wartens sah ich … er ließ mir ausrichten, er sei nun, von seinen universitären Verpflichtungen gänzlich befreit, unverzüglich über die Grenze ins Ausland verreist, und zwar in all seinen potentiellen Diversitäten und mit ebenso vielen Leibwächtern …     

Manchmal verkriecht sich die Welt in ein Wort, oder eine Unterhaltung fällt in das tiefe Loch Humor beim Polyglotten, und immer wieder geht es durch die Straßenschluchten modernen Zusammenlebens, das manchmal kindlich naiv bestaunt, manchmal ironisch, manchmal hymnisch, manchmal auch ironisch-hymnisch besungen wird: … und wäre nicht das bisschen Unkraut da, das bisschen Unkraut, dann wäre dieser Ort ein kolossaler Unort, eingeklemmt in Straßenschluchten, Abfallhalden, Abendland und Morgenland

Immer wieder überrascht auch der plötzlich sich wendende Verlauf einer Geschichte, wenn etwa das Witzige, das Ironische, das nüchterne Betrachten unerwartet in Betroffenheit umschlägt und man als Leser emotional berührt zurückbleibt.

Ich gerate jedes Mal aufs Neue in Verzückung, wenn ich in dem schon äußerlich sehr ansprechenden Buch lese, möchte aber die Leser jetzt wirklich nicht länger von der Lektüre dieser köstlichen Flashs abhalten und schließe mit dem Statement: Der Verblüffung sind keine Grenzen gesetzt, auch nicht den teils aberwitzigen teils hochpoetischen Wortschöpfungen und Satzgebilden, von denen es nur so wimmelt, wie etwa schattenverdorbene Haut, glossolalische Gedankenklumpen, oder dunkle Wandelaugen und Sätze wie Sie war eine Einheimische und hatte ein RestherzMein Freitag ist der Frauenmund, der nun sein Ohr gefunden hat oder Kein Heißsporn hat es denn auch je weiter geschafft als bis zur Hälfte der Kreiszahl piIch bin Roberto, und man hält mich schon lange für tot. Nicht zuletzt, weil meine Gegner noch unschlüssig sind, ob ich noch lebe, lebe ich noch…oder: Seine Tugend bestand in einem einzigen Laster: Immer der zu sein, von dem er annehmen konnte, dass die anderen dachten: Das ist typisch Paul.

Das ist ein wunderbares Buch!

 

 

 

 

Amadé Esperer: Im Auge lacht der Augenblick. Bamberg (Erich Weiß Verlag) 2020. 114 Seiten. 12,00 Euro

 

 

 

Brand New Ancients. Brandneue Klassiker. Lyrik.

Kate Tempest

edition suhrkamp, Berlin 2020

.

ISBN: 9783518127339

VERSschmuggel reVERSible (bilingual)
A review by Amadé Esperer

Translating poems or rendering them or smuggling verses?

Lyrical poetry is undoubtedly considered one of the most challenging genres in the field of translation. Some even go as far as to hold that poems actually cannot be translated into another language without a considerable loss. There seem to be two extreme positions, one held by poets, such as Robert Frost, who deemed the major characteristic, the very essence, of lyrical poetry to be exactly what is being lost in translation. In sharp contrast, the other position, taken by poets such as Yehuda Amichai[1], holds that a poem should be as robust as the Bible to lends itself to translation in possibly all existing languages.

Between these rather theoretical poles, the real business of poetry translation is taking place on an everyday basis as can be judged by taking a look at the catalogues of the big publishing houses. Interestingly, one of the largest markets in this regard is the German book market whose yearly output of poetry translations can be inspected at the annual bookfair in Frankfurt. In 2016, for example, 12 % of all published books were translations, among which some 5700 publications were literary translations[2].

However, you may also find enough poor poetry translations there, especially if we talk about lyrical poetry. Thus, translating poetry well, or, shall we say, adequately, does not seem to be that easy after all. In fact, this was already clear to authors of former epochs. Thus, the Romantic poets, who increasingly enriched the German-speaking world with translations from other languages, were well aware of the problems associated with translation. That literary translation also always smuggles something of the culture of the language to be translated had already been stated by Friedrich Schleiermacher on the occasion of his Plato translations.

Obviously, to know how to speak a language well enough, though being a prerequisite for any acceptable poetry translation, does not suffice to render a good translation. You also need to know the peculiar idioms of the source language and your own language to hope for an adequate translation. The idioms are the frozen memory of a culture and, thus, the soul, so to speak, that inspires life into a language’s vocabulary and syntax, the latter making up its body. However, even, if you are an expert in idioms, this is no guarantee that you master a poem’s translation well.

As a poet, who is also a poetry translator, I actually tend to believe, translation of poems is an art of its own right and most poems can be translated only well enough, if you take into account their specific sound and rhythm, where „sound“ includes alliterations, associations, rhymes and word play. Although, none of these characteristics usually can be translated from one language into another in a 1:1 relationship, it is nevertheless possible to emulate these features in the „translation product“. Therefore, one could argue, that it does not only take a translator, but a poet to adequately translate another poet’s poetry. A poet-translator is not only familiar with the various poetic devices, but he thinks as a poet, which enables him to better understand the other poet’s intentions. So, what about having two poets, two native speakers of different tongues, sit together to work on their poems‘ translation in a common effort? Wouldn’t that be an unsurpassable ideal? Unsurpassable, really?

There may be even something better: Having two poets sit together with a bilingual translator, who may act as a mediator in cases of doubt.

In fact, several such triples recently sat together to translate their poems from German to English and vice versa. The products of their common endeavor has now appeared as a bilingual book with the Wunderhorn Verlag Heidelberg. The book’s title “VERSschmuggel} {reVERSuble” alludes to the editor’s philosophy: “Smuggling verses does not happen along regulated linguistic paths, but is a complex process that requires linguistic resourcefulness and acts past the structural differences of the other language …”. To accomplish this verse smuggling the poets recounted each other the stories behind their poems and then, with the assistance of the translator, „reinvented them in morphological, syntactical and phonetical evasive maneuvers“.

Well, what did these poet-poet-translator triplets really achieve?

Reading through the book one is really amazed and positively surprised, how well the groups performed in creating far more than just simple transmissions of the original poems. They really succeeded in the majority of cases in rendering, through their translations, the sound, the form, and the content of the original poems so well, that the resulting (translated) poem can be seen as an adequate equivalent of the original. Sometimes the translation, i.e. the novel poem, grasping the spirit of the original version even seems a bit funnier and wittier than its original:

..,die Sorge

Des Rauchmelders füllte die Küche zu zwei Dritteln aus

die Relation vom Rad zum Vogel Pfau, vom Glanz zur Angst

 

kein Wohnungsbrand fände hier Platz, also Vorsicht; wenn

ich, was dich nicht betrifft, irgendwann ausfalle

oder ein kraftvolles Glühwürmchen sich in der Nacht

finster auf einen Lichtschalter setzt

um auf den Finger zu warten, das Licht

 

The song of the smoke alarm fills two-thirds of the kitchen,

the exact ratio of wheel to peacock, of sparkle to fear,

 

but no easy fire finds room here, so watch out! Though

I am of no concern to you, I could malfunction

like a firefly landing

on a light switch in the night

waiting for the finger to end it, for light

In summary, the German-English poetry collection VERSschmuggel / reVERSEIBL is not only a highly interesting document of a renowned poetry workshop, but also a great aesthetic pleasure. Among the eight poets, who took part in this workshop and significantly contributed to its success, were: Brenda Shaugnessy, Sandra Meek, Jericho Brown, Linda Gregerson, Mario Chard, Ily Kaminsky, Anja Kampmann, Yevgeniy Breyger, Georg Less, Ulrich Koch, Ronya Othmann and Dagmara Krauss. Contributing to this achievement, however, were also the translators involved in this project, whose biographies unfortunately do not appear in the volume. This is regrettable as it runs opposite to the current trend of making the traditionally invisible translators more visible.

Nevertheless, the editors Karolina Golimowska, Alexander Glumz and Thomas Wohlfahrt, as well as the publishers, Manfred Metzner and Angelika Andruchowicz, are much to be lauded for publishing such a high-quality product.

[1] Esperer HDA. In: Jehuda Amichai. Gedichte, Königshausen & Neumann 2018

[2] https://www.dw.com/de/die-weltliteratur-wird-von-%C3%BCbersetzern-gemacht-internationaler-%C3%BCbersetzertag-2017/a-40754685

Gedichte übersetzen, übertragen oder Verse schmuggeln?

Die Lyrik gilt zweifellos als eine der anspruchsvollsten Gattungen auf dem Gebiet der Übersetzung. Einige gehen sogar so weit zu behaupten, dass Gedichte tatsächlich nicht ohne erhebliche Verluste in eine andere Sprache übersetzt werden können. Es scheint zwei extreme Positionen zu geben, die eine wird von Dichtern wie Robert Frost vertreten, der das Hauptmerkmal, die Essenz der lyrischen Poesie, als genau das ansah, was bei der Übersetzung verloren geht. In scharfem Kontrast dazu steht die andere Position, die von Dichtern wie Yehuda Amichai eingenommen wird und die besagt, dass ein Gedicht so robust wie die Bibel sein sollte, damit es sich für die Übersetzung in möglichst allen Sprachen eignet.

Zwischen diesen eher theoretischen Polen findet das eigentliche Geschäft der Gedichtübersetzung im Alltag statt, wie ein Blick in die Kataloge der großen Verlagshäuser zeigt. Interessanterweise ist einer der größten Märkte in dieser Hinsicht der deutsche Buchmarkt, dessen jährlicher Output an Gedichtübersetzungen auf der jährlichen Buchmesse in Frankfurt eingesehen werden kann. Im Jahr 2016 zum Beispiel waren 12 % aller veröffentlichten Bücher Übersetzungen, darunter rund 5700 literarische. Man kann dort aber auch genug schlechte Übersetzungen finden, vor allem, wenn man die Lyrik betrachtet. Es scheint also gar nicht so einfach zu sein, Gedichte gut oder, sagen wir, angemessen zu übersetzen. In der Tat war dies den Autoren früherer Epochen bereits klar. So waren sich beispielsweise gerade auch die Dichter der Romantik, die den deutschen Sprachraum zunehmend mit Übersetzungen aus anderen Sprachen bereicherten, der mit der Übersetzung verbundenen Probleme durchaus bewusst. Dass literarische Übersetzung immer auch etwas von der Kultur der zu übersetzenden Sprache schmuggelt, hatte schon Friedrich Schleiermacher anlässlich seiner Platon-Übersetzungen festgestellt.

Es liegt auf der Hand, dass es nicht ausreicht, eine Sprache gut genug zu beherrschen, obwohl dies eine Grundvoraussetzung für jede akzeptable Übersetzung von Gedichten ist, um überhaupt ein akzeptables Übersetzungsergebnis liefern zu können. Man muss auch die spezielle Idiomatik der Ausgangssprache und seiner eigenen Sprache kennen, um auf eine adäquate Übersetzung hoffen zu können. Die Idiome sind das eingefrorene Gedächtnis einer Kultur und damit sozusagen die Seele, die den Wortschatz und die Syntax einer Sprache zum Leben erweckt, wobei letztere ihren Körper bilden. Doch selbst wenn man ein Experte für Idiome ist, ist dies keine Garantie dafür, dass man die Übersetzung eines Gedichts gut beherrscht.

Als Dichter, der auch Gedichte übersetzt, neige ich eigentlich dazu zu glauben, dass die Übersetzung von Gedichten eine Kunst für sich ist, und die meisten Gedichte erst dann gut übersetzt sind, wenn man ihre spezifische Klanggestalt und ihren Rhythmus nachgebildet hat, wobei Klanggestalt die musikalischen Phänomene Alliteration, Assoziation, Reim und Wortspiel umfasst. Obwohl keines dieser Merkmale in der Regel im Verhältnis 1:1 von einer Sprache in eine andere übersetzbar ist, ist es dennoch möglich, diese Merkmale in der Zielsprache auf die eine oder andere Weise nachzubilden. Daher könnte man argumentieren, dass es nicht nur eines Übersetzers, sondern auch eines Dichters bedarf, um die Dichtung eines anderen Dichters adäquat zu übersetzen. Ein Dichter-Übersetzer wäre ja nicht nur mit den verschiedenen poetischen Mitteln vertraut, sondern er würde auch wie ein Dichter denken, was es ihm ermöglichte, sich in die Absichten des anderen Dichters besser hineindenken zu können. Wie wäre es also, wenn sich zwei Dichter, zwei Muttersprachler verschiedener Sprachen, zusammensetzen und gemeinsam an der Übersetzung ihrer Gedichte arbeiten würden? Wäre das nicht ein nicht zu übertreffendes Ideal? Wirklich nicht zu übertreffen?

Gibt es nicht sogar noch etwas Besseres: Zwei Dichter mit einem zweisprachigen Übersetzer zusammensitzen zu lassen, der im Zweifelsfall als Vermittler fungieren kann? Tatsächlich saßen kürzlich mehrere solcher Trios aus zwei Dichtern und einem Übersetzer (m/n) zusammen, um ihre Gedichte vom Deutschen ins Englische und umgekehrt zu übersetzen. Das Ergebnis ihrer gemeinsamen Arbeit ist nun als zweisprachiges Buch im Wunderhorn Verlag Heidelberg erschienen. Der Titel des Buches „VERSschmuggel} {revERSuble“ spielt auf die Philosophie des Herausgebers an: „Das Schmuggeln von Versen geschieht nicht auf geregelten sprachlichen Wegen, sondern ist ein komplexer Prozess, der sprachlichen Einfallsreichtum erfordert und an den strukturellen Unterschieden der anderen Sprache vorbei agiert …„. Um diesen Vers-Schmuggel zu bewerkstelligen, erzählten sich die Dichter gegenseitig die Geschichten hinter ihren Gedichten und „erfanden sie dann mit Hilfe des Übersetzers in morphologischen, syntaktischen und phonetischen Ausweichmanövern neu„.

Nun, was haben diese Dichter-Dichter-Übersetzer-Drillinge wirklich erreicht?

Beim Lesen des Buches ist man wirklich erstaunt und positiv überrascht, wie gut es diesen Dreiergruppen gelungen ist, weit mehr als nur einfache Übertragungen der Originalgedichte zu schaffen. In den meisten Fällen ist es ihnen tatsächlich gelungen, in ihren Übersetzungen den Klang, die Form und den Inhalt der ursprünglichen Gedichte so gut wiederzugeben, dass das resultierende (übersetzte) Gedicht mit Fug und Recht als ein adäquates Äquivalent des Originals gelten kann, das sogar für sich alleine stehen könnte. Manchmal erscheint die Übersetzung, den Geist des klar Ausgangsgedicht erfassend, sogar noch etwas lustiger und geistreicher als das Original:

 

..,die Sorge

Des Rauchmelders füllte die Küche zu zwei Dritteln aus

die Relation vom Rad zum Vogel Pfau, vom Glanz zur Angst

 

kein Wohnungsbrand fände hier Platz, also Vorsicht; wenn

ich, was dich nicht betrifft, irgendwann ausfalle

oder ein kraftvolles Glühwürmchen sich in der Nacht

finster auf einen Lichtschalter setzt

um auf den Finger zu warten, das Licht

The song of the smoke alarm fills two-thirds of the kitchen,

the exact ratio of wheel to peacock, of sparkle to fear,

 

but no easy fire finds room here, so watch out! Though

I am of no concern to you, I could malfunction

like a firefly landing

on a light switch in the night

waiting for the finger to end it, for light …

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der deutsch-englische Gedichtband VERSschmuggel / reVERSEIBL nicht nur ein hochinteressantes Dokument eines renommierten Poesie-Workshops, sondern auch ein großer ästhetischer Genuss ist. Dazu haben vor allem die beteiligten acht Lyriker und Lyrikerinnen beigetragen: Brenda Shaugnessy, Sandra Meek, Jericho Brown, Linda Gregerson, Mario Chard, Ily Kaminsky, Anja Kampmann, Jevgenij Brejger, Georg Less, Ulrich Koch, Ronja Othmann und Dagmara Krauss. Beigetragen zu der Leistung haben jedoch auch die an diesem Projekt beteiligten die Übersetzer und Übersetzerinnen, deren Kurzbiographien in dem Band leider unterschlagen wurden. Dies ist umso bedauerlicher, als es dem gegenwärtigen Trend entgegensteht, die traditionell unsichtbaren Übersetzer sichtbarer zu machen.

Nichtsdestoweniger gebührt den Herausgebern Karolina Golimowska, Alexander Glumz und Thomas Wohlfahrt sowie den Verlegern Manfred Metzner und Angelika Andruchowicz großes Lob für die Veröffentlichung eines derart hochwertigen Produkts.

The Human Element (bilingual) by Ellen Hinsey
A review by Amadé Esperer

The human element. A piece of fundamental poetry.

For contemporary poets Adorno’s dictum „To write a poem after Auschwitz is barbaric[1]” is barbaric. Therefore, none of them holds to it, since:

 

„So long as men can breathe or eyes can see,

So long lives this, and this gives life to thee[2].

 

Poetry, like any good literature, is not a luxury, but together with food, drink and sex a fundamental human need. Indeed, writing and understanding poetry distinguishes us as a cultural being from animals. Therefore, as Shakespeare so beautifully put it in his famous sonnet, lyric poetry will exist as long as there are human beings who can read and write.

Lyric poetry as a highly reflexive art can unearth and tame the unspeakable and, thus, has always advantageously participated in the literary process of dealing and coping with great human traumas and catastrophes. In this sense, lyrical testimonies of atrocities and genocides can be found in all cultures from all centuries as written testimonies prove. Some of the best-known poetic descriptions of these events are found in the Tanach resp. the Old Testament[3].

At the time when Adorno’s apodictic statement was uttered, it was already rendered obsolete by lyrical practice. Thus, already in 1945, the later Nobel laureate Czesław Miłosz had written the poem Poor Christ sees the Ghetto and many other famous poets from the German-speaking world were to follow like Paul Celan whose Todesfuge, written between 1944 and 1945, was published in 1947, and Nelly Sachs, whose collection In den Wohnungen des Todes appeared in 1949[4].

Adorno reaffirmed his statement and only much later tried to soften it: „The perennial suffering has as much right to expression as the martyred person has to roar; therefore, it may have been wrong to say that after Auschwitz no poem could be written. But the less cultural question of whether it was still possible to live after Auschwitz is not wrong, whether those who escaped by chance and rightfully should have been murdered (sic!) should be allowed to live.”  It may be well possible that Adorno, like others, saw the dangers of aesthetic stylization in the lyrical and artistic treatment of human suffering: „with this alone, injustice is done to the victims, while no art would stand up to justice”. Others see the problem of post-Auschwitz art for the generations to come differently in that art, including poetry, has a potentially conciliatory effect: „Of all the problems that writers and artists face after the Holocaust, none seems more serious and paralyzing than the dilemma that any depiction of the Holocaust is potentially conciliatory. “[5]

Yet, we who are now aware of and shaped by many genocides ask today: Is it not precisely literature and art that restores dignity to the victims of genocide, war and expulsion, whether they are Armenians, Jews, Sinti and Roma, Palestinians, Tutsis or Kosovars, precisely through an empathic aestheticization that affects the individual?

And is it not the case that literature, even poetry, can help and have a reconciling effect on both the victims and perpetrators?

However, as Confucius put it, a poet must always bear in mind that, “if the terms are not right, the words are not right, and if the words are not right, the works do not come into being, morality and art do not flourish”[6]. It is precisely for this reason that the poet must be careful to use the right terms so that suffering is described in words that restore dignity to the victims and enable the survivors to remember with empathy.

To some extent Ellen Hinsey has impressively succeeded in achieving this goal in her bilingual collection Des Menschen Element / The Human Element recently published with Matthes & Seitz.

The work begins with lapidary statements, each in short strophic blocks consisting of two or three lines, imitating elegiac distichs and recalling archaic inscriptions:

In that moment, on that edge from that realm which

Lifts potential into being – so that actual

 

Approaches, nears embodiment; so that, at that exact

Impress of light everything ignites: the bare

 

Awkwardness of birch, the sour sturdiness of pine,

Grasses still heaped up, hills pinned in frost –

 

In this way, the poet continues page after page with these metrically completely free verses, and eventually the main focus of thought becomes clearer:

 

1.

Condition

About the Hand, nothing has changed. When its moment

Comes, it is deferential and compliant.

 

Nature

Yet, despite its mindlessness, it is always convinced of its

Righteous authority.

 

3.

Genesis

It lifts each time out of the primordial wood – enveloped in

The scent of barbarous necessity.

 

4.

Understanding

It is swiftly assuaged of gulit. The raised Hand is a catalogue

Of justifications.

 

Hinsey does not use aesthetically complicated procedures, but uses a succinct language that states, comments, observes and abstains from any romanticizing embellishments. She usually summarizes her verses in two or three lines to small blocks (elements) that are lined up like epitaphs, albeit a several times these short lumps are interrupted by longer text passages.

If the verses were not of such intense poetic power, one would be overwhelmed by the statements Hinsey offers. She tries hard to make these statements, which are very intense and reflect the genocidal horrors, to look like the objective result of a thorough investigation of reality. Hinsey, who attended several hearings of the International Court of Justice, tries to stick to the facts and nevertheless is capable of rendering them poetical. This seems perfectly in order so long as she thereby reconstitutes the victim’s dignity. And she does. Overall, Hinsey impressively renders the most horrible aspects of human life a gracious narrative. And she enables the reader to realize that it is not only the other, who is capable of committing atrocious acts, but that simply every human, even the reader, is capable of committing the most terrible crimes against humanity. In any case, after reading the book, one is left behind thoughtful and contemplative. And yet there is something productive about this contemplativeness, for one finally realizes that Hinsey draws a realistic world.

The only, albeit minor, defect one is inclined to deplore is that the author could have considerably improved her impressive work if she had not, as she sometimes did, given oversimplified explanations of the causes of homicidal human behavior. In particular, the (hyper)ethical attitude she sometimes adopts was by no means necessary. As a poet, she should have known that poetry can ultimately only exist, even when it deals with the cruelest aspects of life, if it is not captivated by ethics, but is allowed to float freely in the realm of ambiguity. For the true grammar of life is truth with all its aspects, some of which can only be found in ambiguity.

Overall, Hinsey’s truly unique book deserves as many readers as possible. Not least, because it had had a congenial translator in Uta Gosmann, who allows the style and tone of the English original to be well heard in German.

 

[1]Kiedaisch P. (Hrsg.) Lyrik nach Auschwitz. Adorno und die Dichter. Reclam, Philipp, jun. GmbH, Verlag, Stuttgart 1995

[2] These lines represent the final heroic couplet of Shakespeare’s 18th sonnets

[3] Naimark N.M. Genocide- A world history, Oxford University Press, New York, NY, 2018, 8-10

[4] Celan P. Mohn und Gedächtnis, DVA, München 1952

[5] Adorno TW, Negative Dialektik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1966 (Erstausgabe)

[6]  Hinderer W. Politische Lyrik Eine heikle Angelegenheit. Literaturkritik, 5, 2012

Des Menschen Element. Ein Stück Fundamentalpoesie.

Für die heutigen Lyriker und Lyrikerinnen ist Adornos Dictum „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch[1], barbarisch. Daher hielt und hält sich keiner von ihnen daran, denn:

 

So long as men can breathe or eyes can see,

So long lives this, and this gives life to thee.[2]

 

Lyrik ist wie jede gute Literatur kein Luxus, sondern zusammen mit Essen, Trinken und Sex ein fundamentales Grundbedürfnis des Menschen, ja Lyrik schreiben und verstehen zeichnet ihn geradezu als Kulturwesen aus. So gesehen wird es, wie schon Shakespeare es in seinem berühmten Sonett ausgedrückt hat, Lyrik geben, solange es Menschen gibt.

Lyrik als hochreflektierende literarische Kunst, die mit ihren Methoden Unsagbares zum Vorscheinbringen und zähmen kann, nahm seit je an der literarischen Verarbeitung von großen Menschheitstraumata und -katastrophen teil. So finden sich in allen Kulturen aus allen Jahrhunderten seit der Verschriftlichung von Kultur lyrische Zeugnisse über Gräueltaten und Genozide. Die bekanntesten poetischen Schilderungen finden sich im Tannach bzw. dem Alten Testament[3].

Als Adornos seine apodiktische Aussage formulierte, war sie durch die lyrische Praxis schon längst widerlegt. So hatte der spätere Nobelpreisträger Czesław Miłosz bereits 1945 das Gedicht Armer Christ sieht das Ghetto geschrieben, und viele weltbekannte Dichter auch aus dem deutschen Sprachraum sollten ihm folgen, wie etwa Paul Celan, der zwischen seine Todesfuge[4]  zwischen 1944 und 1945 geschrieben und 1947 erstmals veröffentlicht hatte oder Nelly Sachs, deren Zyklus In den Wohnungen des Todes 1949 erschien.

Adorno hat seine Aussage noch einmal bekräftigt und erst später versucht, sie abzuschwächen: „Das perennierende Leiden hat so viel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen“ [sic].[5] Möglicherweise sah Adorno, wie auch andere, in der lyrischen und überhaupt künstlerischen Bearbeitung von menschlichem Leid die Gefahr einer ästhetischen Stilisierung: „damit allein schon widerfährt den Opfern Unrecht, während doch vor der Gerechtigkeit keine Kunst standhielte.“ Andere sehen bezüglich der Post-Auschwitz-Kunst für die Generationen von Nachgeborenen das Problem, dass Kunst, mithin auch Lyrik, eine potentiell versöhnliche Wirkung habe : „Von allen Problemen, mit denen sich Schriftsteller und Künstler nach dem Holocaust konfrontiert sehen, scheint in der Tat keines gravierender und lähmender zu sein, als das Dilemma, dass jede Darstellung des Holocaust von potentiell versöhnlicher Wirkung ist.[6]

Aber, so fragen wir heute, die wir inzwischen von vielen anderen Genoziden wissen und geprägt sind, ist es nicht gerade die Literatur und die Kunst, die den Opfern von Genozid, Krieg und Vertreibung ihre Würde gerade auch durch eine empathische, das Individuum betreffende, Ästhetisierung zurückgibt, ganz gleich ob es sich dabei um Armenier, Juden, Sinti, Roma, Palästinenser, Tutsi oder Kosovaren handelt?

Und ist es nicht so, dass die Literatur, eben auch die Lyrik, auf die Opfern und Täter und ihre Nachfahren eben auch eine versöhnende Wirkung haben kann?

Allerdings, muss man, um mit Konfuzius[7] zu sprechen, als Dichter stets im Auge behalten, dass, „wenn die Begriffe nicht richtig sind, die Worte nicht richtig sind, und wenn die Worte nicht richtig sind, die Werke nicht entstehen, Moral und Kunst nicht gedeihen“. Genau deshalb muss der Lyriker darauf achten, dass er die richtigen Begriffe verwendet, damit das Leiden mit Worten beschrieben wird, die den Opfern ihre Würde zurückgeben und den Überlebenden eine einfühlsame Erinnerung ermöglichen.

Dies ist Ellen Hinsey in eindrucksvoller Weise mit dem Langgedicht Des Menschen Element / The Human Element gelungen, das kürzlich in einer deutsch-englischen Ausgabe bei Matthes & Seitz erschien.

Das Werk beginnt mit lapidaren Aussagen, die jeweils in kurzen strophischen Blöcken daherkommen, die aus zwei bis drei Zeilen bestehen, elegische Distichen imitieren und an archaische Inschriften erinnern:

 

In jener ersten Stunde, die schwebt am Rande der Dunkelheit,

wenn das Jetzt sein Licht unvermittelt entfaltet –

 

In jenem allerersten Augenblick – Horizont aus unerzeugtem Honig,

Orakel, ungeformtes Sein – an jenem einmaligen Saum

 

[…]

 

In jenem Moment, da sich an jenem Rand, aus jenem Reich, das

Mögliche ins Sein erhebt – sodass das Wirkliche

 

Herankommt, sich der Verkörperung nähert; sodass mit ebenjenem

Anbruch des Lichts alles erglüht…

 

Und so schreibt die Autorin Seite für Seite ihre freien Versen fort, bis schließlich das Hauptaugenmerk klar wird:

1.

Gegebenheit

Bei der Hand hat sich nichts geändert, schlägt ihre Stunde,

ist sie folgsam und gefällig

 

2.

Naturell

Trotz ihres Unverstands ist sie immer von ihrer rechtmäßi-

gen Befugnis überzeugt

3.

Genese

Mal um Mal erhebt sie sich aus den Wäldern der Vorzeit –

Gehüllt in den Duft barbarischer Notwendigkeit

 

4.

Übereinkunft+

Ihre Schuld ist schnell gemildert. Die erhobene Hand ist

Eine Litanei von Rechtfertigungen

Wären Hinseys Verse nicht von solch elementarer poetischer Kraft, würde man von den Aussagen, die sie anbietet, überwältigt werden. Sie bemüht sich sehr, diese Aussagen, die sehr intensiv sind und die völkermörderischen Schrecken widerspiegeln, wie das objektive Ergebnis einer gründlichen Untersuchung der Realität erscheinen zu lassen.

Hinsey, die an mehreren Anhörungen für Verhandlungen von Völkermord am Internationalen Gerichtshofs in Den Haag teilgenommen hat, versucht, an den Tatsachen, die sie sich notiert hat, festzuhalten und sie dennoch poetisch zu machen. Das erscheint durchaus in Ordnung, solange sie damit die Würde des Opfers wiederherstellt. Und das tut sie. Insgesamt hat sie die beeindruckende Fähigkeit, die schrecklichsten Aspekte des menschlichen Lebens zu einer gnädigen Erzählung zu machen und so dem Leser die Erkenntnis zu vermitteln, dass nicht nur der andere zu grausamen Taten fähig ist, sondern dass einfach jeder Mensch, prinzipiell auch der Leser, fähig ist, die schrecklichsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen.

Nach der Lektüre des Buches wird man sehr nachdenklich zurückgelassen. Und doch hat das Nachdenken etwas Produktives, denn man merkt schließlich, dass Hinsey bei aller Ästhetik eine realistische Welt zeichnet.

Der einzige kleinere Fehler, den man zu beklagen geneigt ist, ist, dass die Autorin ihr beeindruckendes Werk erheblich hätte verbessern können, wenn sie nicht, wie sie es manchmal tat, allzu vereinfachende Erklärungen zu den Ursachen des (völker)mörderischen menschlichen Verhaltens gegeben hätte. Insbesondere die (hyper)ethische Haltung, die sie manchmal annimmt, war keineswegs notwendig. Als Dichterin hätte sie wissen müssen, dass Poesie letztlich nur existieren kann, selbst wenn sie sich mit den grausamsten Aspekten des Lebens auseinandersetzt, wenn sie nicht von der Ethik gefesselt ist, sondern frei im Reich der Ambiguität schweben darf. Denn die wahre Grammatik des Lebens ist die Wahrheit mit all ihren Aspekten, von denen einige eben nur in der Zweideutigkeit zu finden sind.

Hinseys wirklich einzigartiges Buch verdient unbedingt so viele Leser wie möglich, zumal es mit Uta Gosmann eine kongeniale Übersetzerin gefunden hat, die den Duktus und Tonfall des englischen Originals auch im Deutschen nachempfinden lässt.

 

 

[1] Kiedaisch P. (Hrsg.) Lyrik nach Auschwitz. Adorno und die Dichter. Reclam, Philipp, jun. GmbH, Verlag, Stuttgart 1995

[2] Die beiden Zeilen repräsentieren das finale heroische Couplet des 18. Sonetts von W. Shakespeare

[3] Naimark N.M. Genocide- A world history, Oxford University Press, New York, NY, 2018, 8-10

[4] Celan P. Mohn und Gedächtnis, DVA, München 1952

[5] Adorno TW, Negative Dialektik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1966 (Erstausgabe)

[6] Ebd.

[7] Zitiert nach Hinderer W. Politische Lyrik Eine heikle Angelegenheit. Literaturkritik, 5, 2012