Im Auge lacht der Augenblick
Anna Siy
Man staune und lese, ein deutscher Verlag, nämlich der in Bamberg ansässige Erich Weiß Verlag, hat es tatsächlich gewagt, Flash Fiction-Geschichten herauszubringen. Glückwunsch Herr Weiß! Sie wissen offenbar etwas mit diesem aufregenden Genre anzufangen und haben es gleich mit einem ganzen Band gewürdigt. Allerdings ist der Autor ja auch kein unbekannter, wenn gleich es für Amadé Esperer, der bislang vor allem als Vollblutlyriker bekannt war, doch ungewöhnlich ist, sich mit diesem Band in die Gefilde der Prosa begeben zu haben. Aber er hat sich ja durchaus wählerisch in der Prosalandschaft umgesehen und sich des derzeit wohl reizvollsten Prosagenres, nämlich der Flash Fiction bedient, und, als wäre das nicht schon innovativ genug, ihr nicht selten neue Dimensionen abzugewinnen verstanden.
Überzeugend gelingt es Esperer, die Flash Fiction-Geschichte, die im amerikanischen Schrifttum allzu oft handlungshysterisch und nüchtern narrativ daherkommt, in eine ureigene, lyrisch inspirierte Sprache zu kleiden, in welche die Ornamentik von magischem Realismus ebenso eingearbeitet ist wie sprachspielerischer Witz, lebensphilosophische Ironie und weltoffene Neugierde.
Die 103 Geschichten sind nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch von einer solchen poetischen Wucht, dass einem beim Lesen vor Vergnügen der Atem rascher und der Puls schneller gehen. Plötzlich bietet sich ein ungeahnter Blick auf Welt und Mensch: Jede Tatsache siehst du zum Schweben gebracht, heißt es da in einer der Geschichten, und dies ist auch der rote Faden, der sich durch diese Flash Fiction-Serie zieht. Jede Geschichte hat ihr geheimes Leben, ihr Unerwartetes, Unberechenbares, das uns in einen Sog hineinzieht, den wir nicht für möglich gehalten hätten, jede hat ihre eigene Tonart, mal meditatives Moll, mal triumphales Dur, alle aber strahlen die Wärme einer liebevollen Grundhaltung der Welt und ihren Bewohnern gegenüber aus.
Ob Liebelei oder absurde Begegnung, ob skurrile Kurzbekanntschaft oder ungewöhnlicher Back-Stage-Besuch, stets gelingt es dem Autor, uns auf sprachlich höchstem Niveau zu verführen, aus ungewöhnlichen Perspektiven eingeschliffene Erlebnisroutinen zu durchbrechen und zu den Kernen von Wahrheit und Schönheit vorzudringen, hinter all der zeitgeistigen Oberflächlichkeit, all dem Hässlichen und Verstörenden. So wird etwa aus einem nüchtern-physikalische Phänomen wie den Newton Ringen eine Epiphanie des Schönen:
… Ich kann mich nicht beklagen, die Sonne wärmt auch mich trotz eisiger Minustemperaturen hier unten in der Straßenschlucht. Ich wünsche mir ein langes Wochenende und streiche um die seichten Pfützen, auf denen ölig schillernd Newtons Ringelblumen blühen, als sei der Frühling ausgebrochen …
In der Geschichte Suche werden wir Zeugen einer beginnenden Romanze mit Descratchschem doppelten Boden:
Sie saß am Gegenübertisch, nicht schlank, nicht unschlank, elegant mit hell aufglucksender Minzenfrische im Sinn. Er konnte ihren Anblick nicht ertragen, noch weniger das Fehlen ihrer Gegenwart, stand auf und ging hinauf in sein Zimmer. Dort fiel er in einen leeren Sessel und in tiefe Gedanken. Ein Klopfen holte den schlaflos Hin- und Herdenkenden an die Türe: SIE …
Auch lässt der Autor uns teilhaben, wenn es um die Belauschung der geheimen Erotik der Schöpfung geht:
Versunken saß er unter der Decke der Zeit. Beobachtend den Umkleidewunsch der Schöpfung: An den Händen und Füßen war sie schon nackt, aber ihr Torso war noch verhüllt, ihr Gesicht mit blickdichten Tüchern drapiert. Sie schlangen sich wie Nebelstoff um ihre Hüften, ihren Hals, ihr Antlitz, und bevor man sich’s versah, war sie schon wieder nach hinten verschwunden. Er hatte den brennenden Wunsch, sie als Ganze zu sehen. Zuviel hatte er schon gehört und gelesen von ihren wohlproportionierten Maßen, dem goldenen Schritt und so weiter…
Vielen von Esperers Flash Fiction-Geschichten eignet auch deswegen ein besonderer Esprit, weil sie doppelt kodiert sind, sich unter der Oberfläche intertextuelle Hinweise auf andere Werke von Kunst und Literatur verbergen, die der Geschichte eine ästhetische Zusatzdimension verleihen. So verweist etwa Frau am Fluss nicht nur auf ein berühmtes Bild Baldung Griens, sondern auch auf John Donnes No Man is an Island und Simon und Garfunkels Lied I Am a Rock:
Wie eine Hexe von Baldung Grien sah ich sie sitzen, unten am Fluss in Gedanken versunken, sah ich sie, gehüllt in den grüngelben Mantel Melancholie … Sie war ein Fels und eine Insel, and a rock feels no pain, and an island never cries.
Die Geschichte Ody sehen gar führt uns vor, dass sich die Hunderte von Seiten umfassende Odyssee auch in der Kürze einer amüsant erzählten Flash Fiction in allen wichtigen Aspekten mit philosophischem Hintersinn und sogar ironisch hinterfragend erzählen lässt. Nicht nur dass Odysseus mit seinem Schöpfer Homer zusammentrifft, er begegnet sogar seiner neuzeitlichen Inkarnation Leopold Blum bzw. dessen Frau Molly: Eben fingerte schon die Sonne hektisch den Horizont ab wie eine nackte Ungeduld, da sah ich den blinden Dichter in der hintersten Ecke der Bar vor seinem letzten Glas, versunken in den abnehmenden Rest von Whiskey und Nacht. Ich fragte ihn nach Ody, Odisses, Ulyxes oder Leopold. Er verneinte und kannte ihn ebenso wenig wie Molly … ; auch ein Literatur-Kritiker tritt hier auf und nimmt sich selbst auf die Schippe, wenn er sagt: Nur ein Spinner glaubt ihre Epen und hält sie für Weltliteratur. Wie jener Herakles, von dem der Spruch stammt: Du steigst nie zweimal in dasselbe Bett. Allerdings hat der Kritiker nicht nur Herakles mit dem den guten alten Heraklit verwechselt, sondern muss letzteren auch kräftig missverstanden haben, denn Heraklits berühmtes Dictum über die Fluktuation allen Seins ist nicht auf ein erotisches Lotter-Bett, sondern allenfalls auf das Bett eines Flusses gemünzt.
Es finden sich auch ein paar unverblümt zeitkritische Flashs unter den Geschichten, welche etwa Adornos sich selbst verschlingenden Theoriegewächse ebenso aufs Korn nehmen, wie neuere Auswüchse von Genderismus, postfaktische Geschichtsklitterung, wie politische Pseudokorrektheiten oder Omnipotenzphantasien akademischer Errettungsphantasten:
Ich hatte Glück und fand, ohne lange suchen zu müssen, auf Anhieb das universitäre Halbinstitut, die zweite Hälfte des Gebäudes ragte in einen unauflöslichen Nebel über dem Wasser. Wie auch immer, das waren Äußerlichkeiten. Mir ging es einzig um den Leiter des Halbinstituts, den Erwecker … Trotz meines langen Wartens sah ich … er ließ mir ausrichten, er sei nun, von seinen universitären Verpflichtungen gänzlich befreit, unverzüglich über die Grenze ins Ausland verreist, und zwar in all seinen potentiellen Diversitäten und mit ebenso vielen Leibwächtern …
Manchmal verkriecht sich die Welt in ein Wort, oder eine Unterhaltung fällt in das tiefe Loch Humor beim Polyglotten, und immer wieder geht es durch die Straßenschluchten modernen Zusammenlebens, das manchmal kindlich naiv bestaunt, manchmal ironisch, manchmal hymnisch, manchmal auch ironisch-hymnisch besungen wird: … und wäre nicht das bisschen Unkraut da, das bisschen Unkraut, dann wäre dieser Ort ein kolossaler Unort, eingeklemmt in Straßenschluchten, Abfallhalden, Abendland und Morgenland …
Immer wieder überrascht auch der plötzlich sich wendende Verlauf einer Geschichte, wenn etwa das Witzige, das Ironische, das nüchterne Betrachten unerwartet in Betroffenheit umschlägt und man als Leser emotional berührt zurückbleibt.
Ich gerate jedes Mal aufs Neue in Verzückung, wenn ich in dem schon äußerlich sehr ansprechenden Buch lese, möchte aber die Leser jetzt wirklich nicht länger von der Lektüre dieser köstlichen Flashs abhalten und schließe mit dem Statement: Der Verblüffung sind keine Grenzen gesetzt, auch nicht den teils aberwitzigen teils hochpoetischen Wortschöpfungen und Satzgebilden, von denen es nur so wimmelt, wie etwa schattenverdorbene Haut, glossolalische Gedankenklumpen, oder dunkle Wandelaugen und Sätze wie Sie war eine Einheimische und hatte ein Restherz … Mein Freitag ist der Frauenmund, der nun sein Ohr gefunden hat oder Kein Heißsporn hat es denn auch je weiter geschafft als bis zur Hälfte der Kreiszahl pi … Ich bin Roberto, und man hält mich schon lange für tot. Nicht zuletzt, weil meine Gegner noch unschlüssig sind, ob ich noch lebe, lebe ich noch…oder: Seine Tugend bestand in einem einzigen Laster: Immer der zu sein, von dem er annehmen konnte, dass die anderen dachten: Das ist typisch Paul.
Das ist ein wunderbares Buch!
Amadé Esperer: Im Auge lacht der Augenblick. Bamberg (Erich Weiß Verlag) 2020. 114 Seiten. 12,00 Euro