Lesung

Jehuda Amichai
Liebesgedichte

Erste Liebe[1]

(Aus dem Nachlass)

 

Ich war blind für dich, als du mich liebtest

vor langer Zeit. Ich tauschte dich,

wie Isaak, wegen eines Dufts, Geschmacks, Verwirrung, heftiger Lust,

ich tauschte den Geruch von Feld und Haus und Wärme.

Ich habe die Wörter vergessen von dem einzigen Brief, den ich dir schrieb.

Alles, woran ich mich entsinne, ist der Klebstoffgeschmack

von Briefcouvert und -marke auf meiner Zunge.

Das Schicksal, das uns bestimmte, war kein blindes* Verhängnis,

sondern stark und absolut wie der Finger auf der Geigenseite,

der den Klang eines Tones bestimmt. Aber auch er ist endlich

und bestimmt wie der Tod.

 

(* Wort unlesbar im Manuskript)

1 Esperer HDA. Zwischen Würzburg und Jerusalem. Echter Verlag, Würzburg

2018

Wie ist es, eine Frau zu sein?[1]

(Akziv Gedicht 7, aus: Nun im Aufruhr, 1968)

 

Wie ist es, eine Frau zu sein?

Wie fühlt sie sich an,

die Leere zwischen den Beinen, die Neugierde

unter einem Rock, im Sommer, im Wind?

Und dieser verwegene Hintern.

 

Ein Mann muss mit diesem komischen Sack

zwischen den Beinen leben ≫Wo möchtest du ihn haben≪

fragte der Schneider, als er mir die Hose anpasste,

ohne zu lachen.

 

Wie ist es eine ganze Stimme zu haben, ohne Stimmbruch?

Wie ist es, sich anzuziehen, sich auszuziehen

gleitend, schlüpfend, streichelnd

wie mit Öl

den Körper mit weicher Kleidung zu salben

mit etwas aus Seide, das flüstert: nichts in Pink oder Hellblau?

 

Ein Mann zieht sich mit groben Bewegungen an,

festschnallend, festzurrend, festreißend,

Ecken, Knochen, Luft boxend,

und der Wind verheddert sich in seinen Augenbrauen.

 

Wie fühlt es sich an, eine Frau zu sein?

Dein Körper träumt dich.

Wie ist es, mich zu lieben?

Spuren der Frau auf meinem männlichen Körper

und männliche Spuren in deinem

künden die Hölle,

die uns erwartet

und unseren gegenseitigen Tod.

 

[1] HDA Esperer. Jehuda Amichai und die zeitgenössische Lyrik Israels. In: poetin nr.27, Poetenladen Verlag, Leipzig 2019

Ein Hund nach der Liebe[1]

(Aus: Die Zeit, 1978)

 

Nachdem du mich verlassen hattest,

lies ich einen Spürhund meine Brust

und meinen Bauch beschnüffeln. ließ ihn die Nüstern füllen

und schickte ihn auf deine Spur.

 

Ich hoffe, er findet dich und reist

deinem Lover die Eier auf und beißt

seinen Schwanz ab –

oder bringt mir wenigstens

deine Nylons zwischen den Zähnen

 

[1] Esperer HDA. Jehuda Amichai und die zeitgenössische Lyrik Israels. In: poetin nr.27, Poetenladen Verlag, Leipzig 2019

Ein Sehnsuchtsanfall[1]

(Aus: Stunde der Gnade, 1983)

 

Überall auf der Welt überfällt dich die Sehnsucht

wie ein akutes Fieber.

O Mädchen in dem vorbeifahrenden Auto, o Frau

auf dem desolat beleuchteten Bahnsteig

 

Ich denke, eine anonyme Frau wie jene

ist wie der „Unbekannte Soldat“: Beide verdienen

mehr Blumen und mehr Sehnsucht als die, die man kennt.

Und die Himmelspforten öffnen und schließen sich

die ganze Zeit rasend schnell

wie nervös zuckende Augenlider.

 

Einmal sah ich eine wunderschöne Frau

auf den Balkon eines Konsulatsgebäudes herauskommen.

Sie holte die Flagge von dem vergoldeten Mast ein,

faltete die Fahne zusammen, ging wieder hinein und schloss die Tür.

Sicher zog sie sich drinnen nackt aus,

bedeckte sich mit der fremden Fahne und bettete sich glücklich.

Ich stand unten auf der Straße, meine Fußnägel waren abgebrochen

vor so viel Sehnsucht, wie einmal mein Herz gebrochen war.

 

O Frau vom Balkon, o Frau von der Brücke,

o Mädchen von der Telefonzelle,

deren Augen Regen- oder

Tränenaugen sind.

[1] [1] Esperer HDA. Jehuda Amichai und die zeitgenössische Lyrik Israels. In: poetin nr.27, Poetenladen Verlag, Leipzig 2019, mit freundlicher Genehmigung

Nicht weit vom Tod[1]

(Aus. Auch eine Faust war einst eine offene Hand mit Fingern, 1989)

 

In Latrun, nicht weit vom Tod auf der Anhöhe

und der Stille der Häuser, steht eine Frau am Wegrand

neben einem neuen, glitzernden Auto mit klaffender Kühlerhaube

sie wartet, wie verwundert, dass man sie noch nicht in Sicherheit gebracht hat.

Die Frau ist hübsch, ihr Gesicht eine Mischung aus Zuversicht und Wut,

doch ihr Kleid ist eine Liebesfahne.

Die Frau ist sehr temperamentvoll, denn in ihr erhebt sich ihr toter Vater

wie eine stille Seele.

Ich kannte ihn, als er noch lebte, und grüßte ihn im Vorbeigehen.

 

[1] Esperer HDA. Zwischen Würzburg und Jerusalem. Echter Verlag, Würzburg 2018

Gedichte zum Krieg

Ich wartete auf mein Mädchen

(Aus: Jetzt und an anderen Tagen 1955)

 

Ich wartete auf mein Mädchen, doch ihre Schritte kamen nicht.

Und ich hörte einen Schuss – Soldaten

trainierten für die Schlacht.

Soldaten trainieren immer für eine Schlacht.

 

Dann öffnete ich meinen Hemdkragen

und seine zwei Ecken zeigten

in entgegengesetzte Richtungen.

Mein Hals ragte auf zwischen ihnen, und darauf

der Scheitel meines ruhigen Hauptes

mit meinen Augen, den Früchten.

 

Und unten in der warmen Westentasche

gab mir das Klingen meiner Schlüssel etwas Sicherheit

für all die Dinge, die man noch

verschließen und behalten konnte.

 

Und mein Mädchen läuft noch durch die Straßen,

trägt die Juwelen des Endes

und die Perlen der schrecklichen Gefahr

um ihren Hals.

Zwei Gedichte über die ersten Gefechte[1]

(Aus: Gedichte 1948- 62)

 

1.

Die ersten Gefechte zeitigten schreckliche Früchte von Liebe

mit Küssen fast so tödlich wie Granaten.

In schmucken Bussen unserer Stadt

wurden die blutjungen Soldaten transportiert:

Alle Linien 12, 8, 5

gingen zur Front.

 

2.

Auf dem Weg zur Schlacht mussten wir in einem Kindergarten schlafen.

Ich legte mir einen wollenen Teddybären unter den Kopf.

Dreidel, Puppen und Trompeten fielen

auf mein müdes Gesicht –

keine Engel.

Meine Füße in den schweren Stiefeln

brachten einen Turm aus bunt übereinander gestapelten Würfeln zu Fall.

In meinem Kopf war ein Chaos aus kleinen und großen Erinnerungen.

Die machten meine Träume.

 

Draußen, jenseits des Fensters brannten Feuer…,

auch in meinen Augen unter den Lidern.

 

[1] Esperer HDA. Zwischen Würzburg und Jerusalem. Echter Verlag, Würzburg 2018

Eine Leiche auf dem Feld[1]

(Aus: Zwei Hoffnungen entfernt, 1958)

 

Sein Leben wurde hastig und sorglos weggeworfen

wie die Kleider

eines Übermüdeten.

Wie groß die Nacht geworden ist!

Die Fenster hatten Recht

wie meine Eltern als ich klein war.

Enthaltsame Winde

strichen über die Anhöhen, ernst, gesenkten Hauptes.

 

Majore, Militär- und Zivilbeamte

vermaßen die Entfernungen zwischen Leben

und Tod

mit Winkeln, Zirkeln und kleinen Linealen,

mit Zigarrenkisten und verhärteten Gefühlen

mit zugespitzten Hoffnungen

und Bluthunden.

 

11 Esperer HDA. Zwischen Würzburg und Jerusalem. Echter Verlag, Würzburg 2018

Zwei Hoffnungen vom Schlachtfeld entfernt

(Aus: Zwei Hoffnungen entfernt, 1958)

 

Zwei Hoffnungen vom Schlachtfeld entfernt kam die Vision,

beim Marschieren erschien mir der Friede in Person.

»Ich bin der Busch, der restlos verbrennt« rief der Mann,

»Dies ist der Ort, du darfst, lass deine Schuhe hier an!«

Isaaks letzter Seesack

(Aus: Vom Menschen bist du, zum Menschen kehrst du wieder zurück, 1985)

 

Gegen Kriegsende brachte ich von der Negev zu einem Weinkeller

den letzten Seesack von Isaak aus Rishon Le-Zion.

Denn der Weinkeller lag an der Negev-Front, wo er fiel.

Ich brachte den Seesack zurück zu seinem Vater, einem alten Kellermeister.

Man hatte mir gesagt, nicht ins Frauenhaus, nicht zu Mutter und Schwester, zu gehen,

sondern zum Vater. In einer Gummischürze bis hoch zum Kinn

und kniehohen Gummistiefeln stand er da, im Weinfass und im Wüten seines Lebens.

Mit lauter Stimme im dunklen Keller rief er seine Kollegen von den anderen Fässern herbei:

Hier ist sein Freund, der bei ihm war, als er starb

Hier ist sein letzter Seesack, hier ist sein Handtuch,

das große, gestreifte Handtuch, das wir ihm mitgaben auf seinen Weg in die Negev.

 

O Isaak, du fielst in der Negev

und dein Vater weint in einem Weinkeller.

Mir fiel das alberne Lied von Ibn Gabirol ein:

≫Am Ende des Weins laufen aus den Augen

Ströme von Wasser, Ströme von Wasser≪. Hier

endete der Wein nicht, aber den Augen ging das Wasser aus.

 

An der Kellerdecke flackerten gelbe Lampen

wie gefangene Seelen in Käfigen,

und in den dicken, dunklen Fässern

begann eine nicht endende Gärung

Chuleikat Das dritte Gedicht über meinen Freund Dicki[1]

(Aus: Auch eine Faust war einmal eine offene Hand und Finger1989)

 

Auf dieser Anhöhe sind sogar die Ölbohrtürme jetzt nur noch Erinnerung.

Hier fiel mein Freund, vier Jahre älter war er und wie ein Vater zu mir

in einer tragischen Zeit voller Widrigkeit.

Jetzt bin ich vierzig Jahre älter als er und ich erinnere mich an ihn so,

als sei er ein junger Mann, und ich ein alter trauernder Vater.

 

Und ihr, die ihr euch nur an sein Gesicht erinnert,

vergesst die ausgestreckten Hände nicht,

die leichtfüßigen Beine,

die Worte.

 

Denkt daran, wenn man in schreckliche Schlachten zieht,

dann immer auch an Gärten, an Fenstern, an spielenden Kindern vorbei

und an bellenden Hunden.

 

Erinnert euch und ruft euch die gefallenen Früchte wach,

die Blätter, die Zweige, die harten Dornen daran,

dass sie im Frühling weich und grün gewesen sind,

und vergesst nicht, dass auch die Faust

einmal eine offene Hand war und Finger.

 

[1]   Esperer HDA. Zwischen Würzburg und Jerusalem. Echter Verlag, Würzburg 2018

Ruchama[1]

(Aus: Auch die Faust war einmal eine offene Hand und Finger, 1989)

 

In diesem Wadi lagen wir in den Tagen des Krieges.

Seit damals sind viele Jahre vergangen, viele Siege,

viele Niederlagen. Viele Siege habe ich in meinem Leben gesammelt

und vergeudet, viel Kummer angehäuft und vergebens ausgeschüttet,

viele Dinge habe ich gesagt, wie die Meereswellen im Westen bei Ashkelon,

die immer dasselbe sagen. Aber, so lange ich lebe, wird meine Seele sich erinnern

und mein Körper reifen im Feuer seiner Biografie.

 

Der Abendhimmel über uns ist wie Trompetenmusik,

und die jungen Triebe bewegen sich wie die Lippen von Betenden,

bevor ein Gott auf der Welt war.

 

Hier lagen wir bei Tag und bei Nacht zogen wir in die Schlacht.

Der Sandgeruch wie damals, der Duft von Eukalyptusblättern wie damals,

und das Windaroma wie damals,

 

ich tue jetzt, was ich damals tat,

ich heule still wie jeder Erinnerungshund

und pisse einen Streifen Erinnerung um mich herum,

dass keiner hineinkommt!

 

[1] Esperer HDA. Zwischen Würzburg und Jerusalem. Echter Verlag, Würzburg 2018

Was ich aus den Kriegen lernte[1]

(Aus: Auch eine Faust war einmal eine offene Hand und Finger, 1987)

 

Was ich aus den Kriegen lernte:

Im Rhythmus von Händen und Beinen marschieren

wie aus leeren Gruben pumpende Pumpen.

 

In einer Gruppe marschieren, allein in der Mitte,

mich in Kissen oder Decken vergraben und im Körper der geliebten Frau.

»Mutter rufen« ohne, dass sie es hört,

»Gott« rufen, ohne an ihn zu glauben,

und selbst wenn ich an ihn glaubte,

würde ich ihm nichts von den Kriegen erzählen

wie man einem Kind auch nichts von den Schrecken Erwachsener erzählt.

 

Was habe ich sonst noch gelernt?

Ich habe gelernt, mir einen Rückweg offen zu halten,

im Ausland ein Hotelzimmer am Flughafen oder am Bahnhof zu nehmen,

selbst in Sälen, in denen öffentlich gefeiert wird,

immer die kleine Tür im Blick zu behalten,

auf der in roten Buchstaben »Notausgang« steht.

 

Auch eine Schlacht beginnt

wie ein Tusch vor dem Tanz

und endet mit »Rückzug bei Dämmerung«.

Verbotene Liebe und Kämpfe enden beide manchmal so.

 

[1] Esperer HDA. Zwischen Würzburg und Jerusalem. Echter Verlag, Würzburg 2018

Erinnerungen an Franken

Als ich ein Kind war

(Aus: Nun und an anderen Tagen, 1955)

 

Als ich ein Kind war

wuchsen Schilf und Schiffsmasten am Ufer

doch für mich, der ich da lag, waren sie alle gleich

denn sie alle ragten über mir in den Himmel.

 

Nur die Worte meiner Mutter begleiteten mich

wie in knisterndes Wachspapier gewickeltes Butterbrot,

und ich wusste nicht, wann mein Vater zurückkommt,

denn da war noch ein Wald hinter der Lichtung.

 

Alles streckte seine Hände nach mir aus,

ein Bulle spießte die Sonne mit seinen Hörnern auf,

und nachts da strich das Straßenlicht entlang der Mauer

streichelnd über mein Gesicht, und der Mond, lehnte sich

wie ein großer Wasserkrug herüber,

um meinen Durst zu stillen.

Ich schreibe von rechts nach links[1]

(Aus: Moznajim, März, 1960)

 

Ich schreibe von rechts nach links und sehne mich von links nach

rechts. Die scharfen Schmerzen kommen von oben und unten.

Sie Sonne geht für mich im Osten auf, und das Meer im Westen unter,

mit einem Atem, größer als der Atem meines Lebens, wehen die Winde aus allen

Himmelsrichtungen. Wenn es dort Tag ist, ist es hier Nacht.

Meine Zeit geht der Zeit von dort voraus oder hinkt ihr hinterher

wie in der Zeichnung der verfolgten Verfolger auf einer ionischen Vase.

Ich schreibe von rechts nach links, meine Stirn ist verbrannt,

wie Stroh auf dem Feld sind meine Augen blass geworden,

aber ich liebe wie diese das Leben zwischen Wäldern und sprudelnden Flüssen.

Mit den harten, quadratischen Wörtern meiner Sprache

muss ich meinen Schmerz ausdrücken und die Liebe beschreiben, die ich trotz allem

von den Ahnen ererbte, die vor langer Zeit von weither gekommen sind.

 

[1] Esperer HDA. Zwischen Würzburg und Jerusalem. Echter Verlag, Würzburg 2018

אֲנִי כּוֹתֵב מִיָּמִין לִשְׂמאֹל

 

אֲנִי כּוֹתֵב מִיָּמִין לִשְׂמאֹל, מִתְגַעְגֵּעַ מִשְׂמאֹל

לְיָמִין, הַכְּאֵב הַחַד בָּא מִלְמַעְלָה וּמִלְּמַטָּה, השֶׁמֶשׁ

עוֹלָה לִי בַּמִּזְרָח, הַיָּם יוֹרֵד בַּמַּעֲרָב

בִּנְשִׁימָה גְדוֹלָה מִנְּשִׁימַת חַיַּי. רוּחוֹת

בָּאִים מִכָּל רוּחַ. כְּשֶׁשָּׁם יוֹם, כָּאן לַיְלָה:

זְמַן שֶׁלִי מַקְדִּים אֶת הַזְּמַן שָׁם, אוֹ מְפַגֵּר

אַחֲרָיו, כְּמוֹ רוֹדְפִים שֶׁנַּעֲשִׂים נִרְדָּפִים בְּצִיּוּר

עַל הַכַּד הַיְוָנִי. אֲנִי כּוֹתֵב מִיָמִין לִשְׂמאֹל.

מִצְחִי נִשְׂרָף, וּכְקַשׁ בַּשָׂדֶה מַלְבִּינוֹת עֵינַי,

אֲבָל אֲנִי אוֹהֵב כְּמוֹ אֵלֶּה הַחַיִּים

בֵּין הַיְעָרוֹת וּלְאֹרֶךְ הַנְּהָרוֹת הַמְּלֵאִים.

וּבְמִלִים קָשׁוֹת וּמְרֻבָּעוֹת שֶׁל שְׂפָתִי

אֲנִי צָרִיךְ לְהַגִּיד אֶת כְּאֵבִי

וּלְתָאֵר אֶת הָאַהֲבָה שֶׁאַף עַל פִּי כֵן

יָרַשְׁתִּי מֵאֲבוֹתַי שֶׁבָּאוּ מֵרָחוֹק וּמִזְּמָן.

In einem Dorfwirtshaus in Deutschland[1]

(Aus: Vom Menschenbist du, zum Menschen kehrst du wieder zurück, 1985)

 

Es regnet. Es regnet immer

aus der Vergangenheit in die Zukunft, wie die Wörter.

Die Heilige Dreifaltigkeit sitzt mir gegenüber in einem Dorfwirtshaus:

Jesus, Friede mit ihm, er starb in Jerusalem,

wie auch ich wahrscheinlich einmal.

 

Dampfende Mäntel hängen am Haken,

ich spreche mit ihnen wie mit Menschen.

Auf dem Tisch aus schwerem Holz erinnert sich der Wein im Glas

an sein ganzes Leben, wie ein Mensch im letzten Moment

vor seinem Tod, von den Trauben bis jetzt.

 

Es regnet draußen, und drinnen sind Dunst und Mensch zusammen,

denn jeder Mensch ist nur ein Dunst.

 

[1] Esperer HDA. Zwischen Würzburg und Jerusalem. Echter Verlag, Würzburg 2018

Witzige Gedichte

Weinender Mund

 

Weinmund und Lachmund liegen im Streit

In schweigender Öffentlichkeit.

 

Ziehen und Beißen ergreifen den Mund,

Bitteres Bluten und Bisse machen ihn wund.

 

Bis das Weinen erklärt: Ich juchze.

Bis das Juchen bekennt: Ich schluchze.

Geradewegs aus deinem Vorurteil

(Aus: Große Ruhe. Fragen und Antworten, 1980)

 

Geradewegs aus deinem Vorurteil bist du auf mich gestoßen,

du hattest ’s kaum geschafft dich anzuziehen.

 

Ich wollte dich jüdisch machen mit meinem beschnittenen Körper

Ich wollte dich mit Gebetsriemen von oben bis unten verschnüren.

 

Ich wollte dich in Gold und Seide kleiden

wie die Rollen der Thora, dir einen Davidstern um den Hals hängen

 

und deine Schenkel küssen

wie die Mezuzah am Hauseingang.

 

Ich werde dich den alten Brauch der Fußwaschung

aus Liebe lehren.

 

Ach, wasche du mir die Erinnerungen,

in denen ich so sehr gewandelt bin, dass ich ermüdete!

 

Weil meine Augen erschöpft sind von den quadratischen Buchstaben meiner Sprache,

möchte ich Buchstaben, die fließen wie dein Körper

 

Ich will bei dir nicht wie ein wütender Prophet sein

oder einer, der tröstet.

 

Fast

Wäre es mir gelungen:

 

aber als du weintest, glitzerten die Tränen in deinen Augen

wie Schnee und Weihnachtsdekor