Portrait

Portrait
Friedrich Hölderlin (1770 - 1843)

Das ist Hölderlin

Hommage an einen Mann, der lebte und schrieb, von Kai Bleifuß

Zerzauste Haare, weißes Hemd, schief sitzender Mantel mit zwei Knopfreihen: Eingerahmt von Fachwerk, einem Schnellimbiss und den Filialen mehrerer Modeunternehmen geht ein Stadtführer durch die Gasse, gefolgt von einem Grüppchen Lauschender: „… und in seiner Elegie Brot und Wein heißt es: ‚Aber Freund! wir kommen zu spät‘[1] – weil vom antiken Gleichklang zwischen Göttern, Menschen und Natur einfach nicht mehr viel übrig ist. Weil die Götter ohne Menschen, die sie verehren, einsam, abstrakt und unnahbar geworden sind. So meint es jedenfalls der Dichter.“ Tolle Idee: sich als Hölderlin verkleiden und dann in der dritten Person von ihm reden. Was soll das? Ein Mann mit Karohemd schiebt sich nach vorn: „Ja gut, aber wie hat er denn jetz’ wirklich g’lebt, am Schluss?“ „In zwanzig Minuten sind wir beim Turm; da kann ich Ihnen das in allen Einzelheiten …“ Die Führung trottet um die nächste Ecke. Ein Handy klingelt. Und ein Windstoß kippt ein Schild um, das für Rabatte wirbt.

Wer Friedrich Hölderlin in den Blick nimmt, geboren siebzehnhundertsiebzig im südwestlichen deutschen Sprachraum, Verfasser der Verse: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“[2], – der gerät schnell mal in die Situation, sich wie folgt zu beschimpfen: Bist du doof? Du wolltest doch Hölderlin in den Blick nehmen, seine Gedichte, seine geistigen Leistungen; aber nein, du musst ja schon wieder an seinem Leben herumkratzen! Herrgott, du bist doch Literaturwissenschaftler, kein Biograf, also halt’ dich gefälligst an Literarisches!

Und trotzdem: So oft man Hölderlins Hymnen, Oden und Elegien liest, so oft kommt auch der Autor um die Ecke, der sie geschrieben hat. Obwohl dessen Vita, oder was von ihr übrig ist, regelmäßig den Deutungen zwischen zwei Buchdeckeln entwischt. Wie ist das möglich?

Im Fernseher eine Interviewte: „Die Einzelheiten wissen wir nicht. Das, ähm, ja, das passiert uns bei ihm überhaupt sehr oft. Wenn Sie im Internet ‚hölderlin apollo‘ eingeben, kriegen Sie angeblich hundertviertausend Ergebnisse. Aber keines von denen kann Ihnen sagen, was er genau meint, als er nach über tausend Kilometern zu Fuß von Bordeaux zurückkehrt und in einem Brief schreibt, er sei von Apollo geschlagen. Spielt er auf konkrete Erlebnisse in Frankreich an? Auf die Nachricht vom Tod seiner Geliebten Susette Gontard? Wir wissen es nicht.“

Wir lesen, er hat geschrieben: „Frei sei’n, wie Schwalben, die Dichter“[3] – und hören: Er hat sechsunddreißig Jahre, seine ganze zweite Lebenshälfte minus einige Spaziergänge, in einem Turmzimmer des Städtchens Tübingen verbracht. Er hat geschrieben: „Götter wandelten einst bei Menschen, die herrlichen Musen / Und der Jüngling, Apoll, heilend, begeisternd wie du“[4] – und im Turm ist er gelandet, weil die Psychiatrie ihn nicht mehr haben wollte. Denn „bös sind / Die Pfade“[5] – und in der Psychiatrie, ist er da gelandet, weil er bei Nacht und Nebel dorthin entführt worden war, unliebsam geworden durch … ? Ja, und da wird es dann schnell wieder nebulös.

 

Probe im Theatersaal. Auf der Bühne stehen nebeneinander drei Personen.

Links: „Aus Jena bin ich geflüchtet, weil ich ein gesuchter Revolutionär war, der sich für die deutsche Republik stark gemacht hatte.“ Mitte: „Aus Jena bin ich geflüchtet, weil … [räusper] weil der Major, dessen Sohn ich unterrichtete, ein Kind mit einer Bediensteten gemacht hatte und es mir unterschieben wollte.“ Rechts: „Aus Jena bin ich geflüchtet, weil der Umgang mit den Geistern, die dort tätig waren – Schiller, Goethe, Fichte –, mich verschreckte und ich die Peinlichkeit nicht mehr ertrug.“

Aus der Sitzreihe hinter Ihnen beugt sich jemand vor, vielleicht der Regisseur, und raunt: „Das Stück heißt: Das ist Hölderlin.“

Wer in seiner Gegend wohnt, unter den idyllischen Kuppen der Schwäbischen Alb, lernt es schon in der Schule kennen – dieses Idealbild, diesen Phänotypus eines verrückt gewordenen Dichters. Ein Bild, mächtig genug, um uns immer wieder einzuholen. Egal, von welcher Seite wir uns an das Phänomen Hölderlin heranpirschen – wir landen doch unweigerlich bei ihm als … nein, nicht als Mensch. Eher als Manifestation eines extrem gelebten Lebens, und als solche zieht er uns unweigerlich mit sich in den Turm.

Die Führung kommt um die nächste Ecke gebogen. „Ja, genau. Ja, und deshalb hat er sich in den letzten Jahren auch nie mehr Hölderlin genannt. Als ihm jemand seine alten Gedichte zeigte, sagte er, jaja, die seien schon von ihm, aber der Name, der sei gefälscht, so habe er nie geheißen. Stattdessen – Achtung, hier wird es jetzt ein bisschen uneben –, also stattdessen hat er sich am liebsten Scardanelli genannt, eine Verballhornung des Wortes ‚Scharlatan‘. Zu seiner Kunst als solcher wollte er noch stehen, aber das zugehörige Leben als unverstandener Wortmensch lehnte er rigoros ab. Sie müssen sich vorstellen, er war zu dieser Zeit schon …“ Die Gruppe verschwindet um die Kurve. Im Hintergrund piept das Alarmsystem einer Ladentür.

Links: „Scardanelli, weil meine letzten Werke nicht wert sind, den Namen Hölderlin zu tragen. ‚Scardassare‘ ist Italienisch für ‚Wolle kämmen‘ – wozu wir Narren manchmal verdonnert werden.“ Mitte: „Scardanelli wegen der Fiktionalität aller Identitäten. Ein Name als Hommage: Sganarelle heißt eine beliebte Figur bei Molière.“ Rechts: „Ich wollte mich einfach über meine Besucher lustig machen. Ist Ihnen aufgefallen, dass in ‚Scardanelli‘ und ‚Hölderlin‘ sehr viele gleiche Buchstaben stecken? Mir nicht. Immerhin war ich ja verrückt geworden.“

Die Interviewte: „Es gibt noch zig weitere Deutungen, aber letztlich weiß niemand, warum er aus Frankreich geflüchtet ist. Als Hauslehrer in Bordeaux, bei einem, tja, einem wohlhabenden deutschen Weinhändler, soll er eigentlich eine gute Figur gemacht haben. Aber schon nach wenigen Monaten nimmt er die Füße in die Hand und wandert, so, wie er hergekommen ist, durch das ganze Land zurück in die Heimat, wo er als völlig veränderter Mensch ankommt.“

Und jetzt? Jetzt haben Sie plötzlich sehr viel Luft unter den Füßen. Außerdem ein dünnes Stahlgitter, durch das man hundert Meter weiter unten Bäume und frischgrüne Wiesen sieht. Die Brücke ist eins-zwanzig breit, glänzt silbrig-neu und spannt sich wie ein durchhängendes Seil von einer Talseite zur sehr weit entfernten anderen. Im nächsten Moment beginnt sie mehr und mehr zu wackeln, denn neben Ihnen stapft mit großen Schritten der Regisseur aus dem Theater vorbei. Als er fast gleichauf ist, zeigt er eine ausholende Gebärde: „Das ist Hölderlin.“ „Was? Die Brücke?“ „Klar. Denken Sie mal drüber nach.“ „Äh, ja also …… Ach, Sie meinen, wegen der Patmos-Hymne?? Weil da die Menschen ‚Söhne der Alpen‘ sind, die auf ‚leichtgebaueten Brücken‘ über den Abgrund gehen?[6]“ Doch der Regisseur wird kein bisschen langsamer und ist schon fünf Meter weiter. Dafür taucht aus der Richtung, von wo er gekommen ist, eine der Bühnengestalten auf, diesmal mit Outdoor-Funktionskleidung und Selfie-Stick. Aus dem Handy am jenseitigen Ende dringt eine Stimme, während die Gestalt sich fotografierenderweise in Szene setzt:

„Zweitausendvierzehn wurde in einem Tal hinter dem österreichischen Reutte die ‚highline 179‘ eröffnet, laut Guinness-Buch die längste Tibet-Style-Hängebrücke der Welt. Nur zweieinhalb Jahre später entstand bei Zermatt in der Schweiz die weltweit längste Fußgänger-Hängebrücke überhaupt, jedenfalls die mit dem längsten frei schwebenden Teilstück, aber es gibt auch eine ähnliche Brücke am Dachstein; der Titlis Cliff Walk gilt als höchstgelegene Hängebrücke Europas, und bei Gstaad sind mit dem Peak Walk erstmals zwei Bergspitzen verbunden worden, Haupt- und Nebengipfel des Scex Rouge. In den Alpen dieser Tage hat sich ein regelrechter Wettbewerb darum entwickelt, wer mit welcher spektakulären Konstruktion die meisten Touristen anlockt.“

Die Bühnengestalt stellt das Posieren ein und folgt dem Weg des Regisseurs. Nach fünf Metern rufen Sie ihr hinterher: „Sie wissen aber schon, dass er das metaphorisch gemeint hat, oder? So von wegen: Abgründe zwischen Menschen überbrücken; Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit … Das … das ist ja die zynischste Hölderlin-Interpretation, die mir je begegnet ist!“ Doch die Gestalt geht einfach weiter.

Vielleicht liegt es ja auch an unserer Tendenz, alles auf knappe Slogans herunterzubrechen. Bei Zermatt: die Längste. Bei Engelberg: die Höchste. In Tübingen: der Verrückteste. – Vielleicht ist es das, was uns dazu bringt, uns ein ums andere Mal auf eine halb verschwundene Biografie zu stürzen, bis das vorhandene Werk dahinter verblasst. Die Marktstrategen werden sich freuen. Der Dichter als Marke ist voll etabliert.

„Überhaupt das Thema Kapitalismus.“ Die Interviewte im Fernseher schlägt die Beine übereinander. „In der Hymne Der Archipelagus heißt es sinngemäß, einstmals hätten die Götter den Kaufmann ebenso geliebt wie den Dichter, ‚dieweil er …‘ – also ich meine, da heißt es: ‚dieweil er die guten / Gaben der Erd’ ausglich und Fernes Nahem vereinte‘[7]. Ungefähr so muss es stimmen. In seiner eigenen Epoche dagegen, in der man hochspezialisiert ist, in der man … ja, in der langsam auch das moderne Bankenwesen Gestalt annimmt, die ersten Vorboten der Industriellen Revolution auftauchen, sieht er sich mit einer Arbeitswelt konfrontiert, die zwar ‚rastlos‘ ist, ‚doch immer und immer / Unfruchtbar‘[8].“

Ein Auszoomen heraus aus dem Bild offenbart, dass der Fernseher mitten auf einer weitläufigen Wiese steht, umkränzt von Parkbäumen und zunehmend verschluckt von Nebelschwaden. Die Rückwärtsbewegung kommt erst dann zum Stoppen, als jäh der Regisseur ins Bild gerät, der mit ausholender Geste in die Landschaft weist: „Das ist Hölderlin.“ Dann geht er gemächlich hinter einen dicken Stamm und bleibt dahinter verschwunden. Dafür schälen sich von einer anderen Seite her zwei … zwei lebensgroße Gliederpuppen aus dem Nebel, eine mit weißem Hemd und zweireihigem Mantel, die andere, etwas kleinere, mit Rüschenkleid. Ihre Schritte knirschen auf dem Kies einer dunstig angedeuteten Allee. Dazu: zwei Stimmen.

Er: „Und was ist dann passiert?“ Sie: „Also stell dir vor: Ein gewisser Friedrich Hölderlin und eine gewisse Susette Gontard spazieren durch den Gräflichen Park von Bad Driburg. Er – Hauslehrer ihres Sohnes. Sie – verheiratet, seit sie fünfzehn war. Er schwimmt in Ideen. Nur nicht in solchen, die Geld einbringen. Sie schwimmt in Geld. Nur nicht in eigenem, sondern dem ihres Ehemanns.“ „Dem Grafen von Bad Driburg?“ „Nein. Er ist Bankier in Frankfurt; sein Haus hat mehr Zimmer als die meisten Schlösser der Gegend. Aber Frankfurt wird von französischen Truppen bedroht; deshalb bleibt er dort allein zurück, regelt die Geschäfte – und schickt die ganze Familie samt Hauslehrer fort in sichere Gefilde.“ „Und es kommt, wie es kommen muss?“ „Sag das nicht so! Es ist wirklich … es ist die maximale Liebe. Für ihn und für sie. Und nicht erst, seit sie gemeinsam auf Reisen sind.“

Die beiden schlendern an Ihnen vorbei, ohne Sie wahrzunehmen. „Und was ist dann passiert? Worüber haben sie geredet, so allein im Park?“ „Na ja. Wenn es Goethe gewesen wäre. Der hätte die Geschichte Wort für Wort seinem Sekretär diktiert. Aber es war Hölderlin. Und der hatte keinen Sekretär.“ „Toll.“ „Stell dir einfach vor, sie schwimmen. Die Hügel der Parklandschaft werden zu gigantischen Wellen, die hoch- und immer höher schlagen. Und beide wissen: Es sind nun mal keine Wellen, die sie über den Atlantik tragen, in ein neues Leben in Amerika.“ „Sondern … zurück?“ Sie legt einen Arm um ihn. „Schon im Herbst ist es soweit. Die Lage in Frankfurt hat sich beruhigt.“ „Und … und dann?“ „Na was wohl? Sie sind natürlich aufgeflogen.“ Das Paar wird im Nebel farblos und verschmilzt mit einer weißen Wand.

Auf der Bühne. Links: „Der Bankier hat gebrüllt.“ Mitte: „Er hat mich wortlos ins Gesicht geschlagen.“ Rechts: „Er hat seine Frau gezwungen, mir die Entlassung mitzuteilen.“

„‚[U]nd wüßten sie noch in kommenden Jahren / Von uns beiden, wenn einst wieder der Genius gilt, / Sprächen sie: es schufen sich einst die Einsamen liebend / Nur von Göttern gekannt ihre geheimere Welt.‘[9] So der Dichter siebzehnhundertneunundneunzig.“ So der Stadtführer am Ufer des Flusses Neckar; über ihm aufragend: der Turm.

Trotzdem fragt man sich ja schon, wie es sein kann, dass ein Klassiker der deutschen Literatur eine so lückenhafte Vita hat. Das ist ein Mensch, zu dessen Ehren Festivals entstehen, auf dessen Namen Züge und Schiffe getauft werden; und an jeder entscheidenden Ecke seines Werdegangs hängt ein Fragezeichen. Als ob er irgendwann im frühen Mittelalter gelebt hätte …

„… und das Fragmentarische in seiner Sprache, seinen Gedichten; dazu der Verzicht auf Reimworte, die drastischen Metaphern – all das wird einmal ungeheuer modern werden. Im Expressionismus zum Beispiel, gute hundert Jahre später.“ Eine Goethebüste mit Lorbeeren, dazu die Worte: „Jaa, der Hölterlein, der ist mir ein paarmal begegnet. Er hätte anders schreiben sollen. Mehr so wie ich.“ Hinter der Büste: der Regisseur mit ausgestrecktem Zeigefinger. „Das ist Hölderlin.“ Wie hat er in Frankreich eingekauft? Wie ist seine Wäsche sauber geworden? „Erst neunzehnhundertvierundfünfzig wurde im Nachlass eine seiner wortgewaltigsten Hymnen entdeckt, die Friedensfeier.“ „Aus der Schweiz bin ich fortgegangen, weil …“ [Schulterzucken.] „Weil …“ [Und Schulterzucken.] „Weil …“ „Das ist Hölderlin.“ Ein Würfel. Eine Katze. Ein Karussell. Ein Handy klingelt. Vielleicht sollte mal jemand eine Biografie über Scardanelli schreiben. „Dem eigentlichen Text hat er die Worte vorangestellt – Moment noch, das kann ich nicht auswendig …: ‚Ich bitte dieses Blatt nur gutmütig zu lesen. So wird es sicher nicht unfaßlich, noch weniger anstößig sein. Sollten aber dennoch einige eine solche Sprache zu wenig konventionell finden, so muß ich ihnen gestehen: ich kann nicht anders.‘[10]“ „I hätt’ au no mal ä Frag: Ich han g’hört, sie ham ihn mit so ’ner Ledermaske ruhigg’stellt, also da halt in der Psychiatrie. Weiß mer des sicher?“ Beethoven hätte mit Nudeln geworfen. „Die Theorien reichen von ‚hochgradig schizophren‘ bis hin zu: ‚Er wollte nur seine Ruhe haben‘.“ Eine kühle Brise. Ein Zwinkern. Ein New York Cheese Cake. Und dann: Treppe rauf ins Turmzimmer. „Um mein Andenken zu wahren, hat mein Zimmerwirt die meisten Aufschriebe der Turmzeit vernichtet.“ „Später übernahm seine Tochter. Sie dachten, das Zeug will sowieso keiner lesen.“ „Und niemand hat irgendwann irgendwas vernichtet.“ „… denn seine Gedichte hat er zum Schluss um Jahrhunderte in die Vergangenheit zurückdatiert, oder voraus in die Zukunft.“ „Das … ist Hölderlin!“ „Aber Freund! wir kommen zu spät“[11]

… sagt uns ein Zettel in einer Vitrine, während rundherum touristischer Applaus aufkommt. Der Stadtführer hat seinen Vortrag beendet. Keine Frage ist offen geblieben.

Natürlich können wir jetzt noch eine Weile rumjammern und sagen: Die Nicht-Biografie erzählt von einem Mann, der die menschliche Gemeinschaft besang und dafür die Quittung bekam, die seine Zeitgenossen für angemessen hielten. Wir können auch sagen: Sie ist eine Aufforderung an ferne Epochen, sich an das zu halten, was bleibt: keine Slogans, sondern Gedichte. – Oder aber wir genießen einfach den Blick hinaus aus des Dichters Turmzimmer:

Der Fluss glitzert in der Sonne. Die Touristengruppe hastet zum Bus. Kein Handy klingelt. Und auf dem Olymp feiern die Götter.

 

[1] Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte und Hyperion, 5. Aufl., Frankfurt a. M. und Leipzig 2015, S. 289.

[2] Aus „Patmos“, ebd. S. 350.

[3] Aus „Die Wanderung“, ebd. S. 325.

[4] Aus „Götter wandelten einst …“, ebd. S. 215.

[5] Aus „Mnemosyne“, ebd. S. 364.

[6] Ebd. S. 350.

[7] Ebd. S. 255.

[8] Ebd. S. 261.

[9] Aus „Götter wandelten einst …“, ebd. S. 215.

[10] Aus „Friedensfeier“, ebd. S. 338.

[11] Aus „Brot und Wein“, ebd. S. 289.

This is Hölderlin.

A homage to a man who lived and wrote by Kai Bleifuß;

English Translation: Julia C. Graney

Disheveled hair, white shirt, crooked coat with two rows of buttons: Framed by half-timbered houses, a fast-food restaurant and the branches of several fashion companies, a city guide walks through the alley, followed by a group of eavesdroppers: “… and in his elegy Bread and Wine it says: ‘But friend! we are too late’ – because there is simply not much left of the ancient harmony between gods, humans and nature. Because without people to worship them, the gods have become lonely, abstract and unapproachable. At least, that’s what the poet means.” Great idea: dressing up as Hölderlin and then talking about him in the third person. What’s the point? A man in a plaid shirt pushes himself forward: “Yes, but how did he really live in the end?” “In twenty minutes, we’ll be at the tower; there I can tell you in detail …” The guide trots around the next corner. A cell phone is ringing. And a gust of wind knocks over a sign advertising discounts.

Anyone taking a closer look at Friedrich Hölderlin, born in seventeen hundred and seventy in the southwestern part of Germany, author of the verses: “But where there is danger, / The saving also grows”, will quickly get into the situation of insulting himself as follows: Are you stupid? You wanted to take a look at Hölderlin, his poems, his intellectual achievements; but why then do you have to scratch at his life? For God’s sake, you are a literary scholar, not a biographer, so please stick to what is in the literary field!

And yet, as often as one reads Hölderlin’s hymns, odes, and elegies, the same author who wrote them often appears somewhere around the corner. Although his vita, or what is documented of it, regularly escapes the interpretation between two book covers. How is that possible?

An interviewee on the TV: “We don’t know the details. That, uhm, yes, that happens to us very often with him all the time. If you enter ‘hölderlin apollo’ into a search engine on the internet, you get a hundred and four thousand results. But none of them tells you exactly what Hölderlin actually meant, when returning from Bordeaux, after having walked more than a thousand kilometers, he wrote in a letter that he had been ‘beaten by Apollo’. Is he alluding to specific experiences in France or referring to the news of the death of his beloved Susette Gontard? We just don’t know.”

We read that Hölderlin wrote: “Free, like swallows, be the poets” – and we hear: He spent thirty-six years, the complete second half of his life minus a few walks, in a tower room in Tübingen. He wrote: “Gods once walked with men, the glorious muses / And the Young One, Apollo, healing, inspiring like you” – and he ended up in the tower. Because psychiatry no longer wanted him? For “evil are / The paths” – and rumor has that he had been admitted to the psychiatric ward in an act of kidnapping, in a night and fog action, having become disagreeable because … well, and there it quickly gets nebulous again.

 

Rehearsal in the theater hall.

Three people stand side by side on the stage.

Left: “I fled Jena because I was a wanted revolutionary who had campaigned for the German Republic.”

Middle: “I fled Jena because … [clears throat] because the major whose son I taught had made a child with a servant and wanted to foist it on me.”

Right: “I fled Jena because dealing with the spirits who were active there – Schiller, Goethe, Fichte – frightened me and I could no longer bear the embarrassment.”

From the row of seats behind you, someone leans forward, perhaps the director, murmuring, “The play is called: This is Hölderlin.

 

Those who live in his region, among the idyllic hilltops of the Swabian Jura, already get to know it in school – this ideal image, this phenotype of a poet gone mad. An image powerful enough to catch up with us again and again. No matter from which side we approach the phenomenon of Hölderlin – we inevitably end up with him as … no, not as a human being. Rather as a manifestation of a life lived in the extreme, and as such he inevitably draws us into the tower with him.

 

The guided tour turns around the next corner. “Yes, exactly. Yes, and that’s why he never called himself Hölderlin in recent years. When someone showed him his old poems, he said, sure, they were by himself, but the name was fake, that was never his name. Instead – attention, here it becomes now a little uneven -, thus instead he called himself Scardanelli, a verbalization of the word ‘charlatan’. He still wanted to stand by his art as such, but he rigorously rejected the associated life as a misunderstood wordsman. You have to imagine, he was by this time …” The group disappears around the bend. In the background, the alarm system of a store door beeps.

On the left: “Scardanelli, because my last works are not worthy to bear the name Hölderlin. ‘Scardassare’ is Italian for ‘combing the wool’ – which we fools are sometimes condemned to do.”

Central: “Scardanelli because of the fictionality of all identities. A name in homage: Sganarelle is the name of a popular character in Molière.”

On the right: “I just wanted to make fun of my visitors. Did you notice that the words ‘Scardanelli’ and ‘Hölderlin’ contain a larger number of equal letters? I didn’t. After all, I had gone mad.”

The interviewee: “There are dozens of other interpretations, but ultimately no one knows why he fled France. As a tutor in Bordeaux, for a, well, a wealthy German wine merchant, he is supposed to have cut a good figure. But after only a few months, he takes to his feet and wanders, just as he came, across the country back to his homeland, where he arrives a completely changed man.”

And now? Now you suddenly have a lot of air under your feet. Also, a thin steel grid through which you can see trees and fresh green meadows a hundred meters further down. The bridge is one-twenty wide, shines silvery-new and stretches like a sagging rope from one side of the valley to the very distant other. The next moment, it begins to wobble more and more, as next to you, the director from the theater passes by with big strides. When he is almost at the same level, he shows a sweeping gesture, “This is Hölderlin.” “What, the bridge?” “Sure. Think about it.” “Uh, yeah so …… Oh, you mean because of the Patmos Hymn??? Because there people are ‘sons of the Alps’ walking on some ‘light built bridges’ over the abyss?”

But the director doesn’t slow down and is already five meters away. Instead, one of the stage figures emerges from the direction he came from, this time with outdoor functional clothing and a selfie stick. A voice comes out of the cell phone at the far end, while the figure takes a picture of himself:

“Two thousand fourteen, the ‘highline 179’ was opened in a valley behind Reutte in Austria, according to the Guinness Book the longest Tibet-style suspension bridge in the world. Only two and a half years later, the world’s longest pedestrian suspension bridge ever was erected near Zermatt in Switzerland, at least the one with the longest free-floating section, but there is also a similar bridge on the Dachstein; the Titlis Cliff Walk is considered the highest suspension bridge in Europe, and with the Peak Walk near Gstaad, two mountain peaks have been connected for the first time, the main and secondary summit of the Scex Rouge. In the Alps these days, a real competition has developed to see who will attract the most tourists with what spectacular construction.”

The stage persona stops posing and follows the director’s path. After five meters, you call after him: “You do know that he meant that metaphorically, don’t you? True to the motto: Bridging chasms between people; freedom, equality, brotherhood … That … that’s the most cynical Hölderlin interpretation I’ve ever come across!” But the figure simply continues.

Perhaps it’s also due to our tendency to break everything down into succinct slogans. Near Zermatt: the longest. Near Engelberg: the highest. In Tübingen: the craziest. – Maybe that’s what makes us pounce on a half-disappeared biography one after the other until the existing work fades behind it. The market strategists will be pleased. The poet as a brand is fully established.

“Well, this whole issue of capitalism.” The interviewee on the television crosses her legs. “In the hymn The Archipelago, it says that the gods once loved the merchant as much as the poet, ‘because he …’ – I think it says: ‘because he balanced the good / gifts of the earth and united the distant with the near’. It must be about right like that. In his own epoch, on the other hand, in which one is highly specialized, in which one … yes, in which the modern banking system is slowly taking shape, in which the first harbingers of the Industrial Revolution emerge, Hölderlin sees himself confronted with a world of work that is ‘restless’, ‘yet always and always / Infertile’.”

Zooming out of the picture reveals that the TV is standing in the middle of a spacious meadow, surrounded by park trees and increasingly swallowed up by clouds of fog. The backward movement only comes to a halt, when the director abruptly enters the picture and gestures out into the landscape: “This is Hölderlin.” Then he walks leisurely behind a thick trunk and remains disappeared behind it. Instead, from another side, two … two life-size mannequins rise out of the mist, one with a white shirt and double-breasted coat, the other, somewhat smaller, with a ruffled dress. Their footsteps crunch on the gravel of a vaguely implied avenue. In addition: two voices.

He: “And then what happened?” She: “Well, just imagine: A certain Friedrich Hölderlin and a certain Susette Gontard are walking through the Count’s Park in Bad Driburg. He – tutor of her son. She – married since she was fifteen. He is swimming in ideas. Only not in those that bring in money. She is swimming in money. Only not in her own, but in her husband’s.” “The Count of Bad Driburg?” “No. He’s a banker in Frankfurt; his house has more rooms than most castles in that region. But Frankfurt is threatened by French troops; so he stays behind there alone, settles the business – and sends the whole family, including the tutor, away to safe grounds.” “And it comes as it must?” “Don’t say it like that! It’s really … it’s maximum love. For him and for her. And not just since they started traveling together.”

The two pass by without noticing you. “And then what happened? What did they talk about, alone in the park like that?” “Well. If it had been Goethe. He would have dictated the story word for word to his secretary. But it was Hölderlin. And he didn’t have a secretary.” “Great.” “Just imagine them swimming. The hills of the parkland become gigantic waves, crashing high and higher. And they both know: It’s not waves that will carry them across the Atlantic to a new life in America.” “But … back?” She puts an arm around him. “It’s already autumn. The situation in Frankfurt has calmed down.” “And … and then?” “Well, what do you think? They got caught out, of course.” The couple becomes colorless in the fog and merges with a white wall.

On stage. On the left: “The banker was yelling.” At center: “He slapped me in the face without a word.” On the right: “He forced his wife to tell me that I had been dismissed.”

“’[A]nd would they still know in years to come / Of us two, when once again the genius will hold true, / Would they say: once the lonely created themselves loving / Only known by gods their more secret world.’ Thus, the poet seventeen hundred and ninety-nine.” Thus, the city guide on the banks of the river Neckar; rising above him: the tower.

Nevertheless, one does wonder how it can be that a literary classic of German literature has such a sketchy biography. This is a man in whose honor festivals are held, in whose name trains and ships are christened; and at every decisive corner of his career there is a question mark. As if he had lived sometime in the early Middle Ages …

“… and the fragmentary nature of his language, his poems; in addition, the renunciation of rhyming words, the drastic metaphors – all this will one day become tremendously modern. In Expressionism, for example, a good hundred years later.” A bust of Goethe with laurels, and the words: “Yes, Hölterlein, I’ve met him a few times. He should have written differently. More like me.” Behind the bust: the director with his index finger extended. “This is Hölderlin.” How did he shop in France? How did his laundry get clean? “It wasn’t until nineteen hundred and fifty-four that one of his most eloquent hymns, the Peace Celebration, was discovered in his estate.” “From Switzerland I left because …” [Shoulder shrug.] “Because …” [And shoulder shrug.] “Because …” “This is Hölderlin.” A cube. A cat. A carousel. A cell phone rings. Maybe someone should write a biography of Scardanelli sometime. “To the actual text he prefaced the words – wait a minute, I don’t know this by heart …: ‘I ask that this sheet be read only benevolently. Thus it will certainly not be incomprehensible, still less offensive. But if, nevertheless, some should find such language too unconventional, I must confess to them: I cannot help it.’” “I also have a question: I heard that they sedated him with a leather mask, in the psychiatric ward. Do we know that for sure?” Beethoven would have thrown noodles. “The theories range from ‘highly schizophrenic’ to: ‘He just wanted to have his peace’.” A cool breeze. A wink. A New York cheesecake. And then: upstairs to the Tower Room. “To preserve my memory, my landlord destroyed most of the write-ups from the tower days.” “Later, his daughter took over. They thought no one would want to read that stuff anyway.” “And no one ever destroyed anything.” “… because in the end he backdated his poems by centuries into the past, or ahead into the future.” “This … is Hölderlin!” “But, friend, we’re too late” –

… a note in a display case tells us, while tourist applause arises all around. The city guide has finished his lecture. No question has remained unanswered.

Of course, we can now whine for a while and say: The non-biography tells of a man who sang about the human community and got the acknowledgment for it that his contemporaries considered appropriate. We can also say: it is an invitation to distant eras to stick to what remains: not slogans, but poems. – Or we can simply enjoy the view out of the poet’s tower room:

The river glistens in the sun. The group of tourists hurries to the bus. No cell phone rings. And on Mount Olympus, the gods are celebrating.

 

 

For References see left column.

Friedrich Hölderlin (1770 - 1843)

Das ist Hölderlin

Hommage an einen Mann, der lebte und schrieb, von Kai Bleifuß

Zerzauste Haare, weißes Hemd, schief sitzender Mantel mit zwei Knopfreihen: Eingerahmt von Fachwerk, einem Schnellimbiss und den Filialen mehrerer Modeunternehmen geht ein Stadtführer durch die Gasse, gefolgt von einem Grüppchen Lauschender: „… und in seiner Elegie Brot und Wein heißt es: ‚Aber Freund! wir kommen zu spät‘[1] – weil vom antiken Gleichklang zwischen Göttern, Menschen und Natur einfach nicht mehr viel übrig ist. Weil die Götter ohne Menschen, die sie verehren, einsam, abstrakt und unnahbar geworden sind. So meint es jedenfalls der Dichter.“ Tolle Idee: sich als Hölderlin verkleiden und dann in der dritten Person von ihm reden. Was soll das? Ein Mann mit Karohemd schiebt sich nach vorn: „Ja gut, aber wie hat er denn jetz’ wirklich g’lebt, am Schluss?“ „In zwanzig Minuten sind wir beim Turm; da kann ich Ihnen das in allen Einzelheiten …“ Die Führung trottet um die nächste Ecke. Ein Handy klingelt. Und ein Windstoß kippt ein Schild um, das für Rabatte wirbt.

Wer Friedrich Hölderlin in den Blick nimmt, geboren siebzehnhundertsiebzig im südwestlichen deutschen Sprachraum, Verfasser der Verse: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“[2], – der gerät schnell mal in die Situation, sich wie folgt zu beschimpfen: Bist du doof? Du wolltest doch Hölderlin in den Blick nehmen, seine Gedichte, seine geistigen Leistungen; aber nein, du musst ja schon wieder an seinem Leben herumkratzen! Herrgott, du bist doch Literaturwissenschaftler, kein Biograf, also halt’ dich gefälligst an Literarisches!

Und trotzdem: So oft man Hölderlins Hymnen, Oden und Elegien liest, so oft kommt auch der Autor um die Ecke, der sie geschrieben hat. Obwohl dessen Vita, oder was von ihr übrig ist, regelmäßig den Deutungen zwischen zwei Buchdeckeln entwischt. Wie ist das möglich?

Im Fernseher eine Interviewte: „Die Einzelheiten wissen wir nicht. Das, ähm, ja, das passiert uns bei ihm überhaupt sehr oft. Wenn Sie im Internet ‚hölderlin apollo‘ eingeben, kriegen Sie angeblich hundertviertausend Ergebnisse. Aber keines von denen kann Ihnen sagen, was er genau meint, als er nach über tausend Kilometern zu Fuß von Bordeaux zurückkehrt und in einem Brief schreibt, er sei von Apollo geschlagen. Spielt er auf konkrete Erlebnisse in Frankreich an? Auf die Nachricht vom Tod seiner Geliebten Susette Gontard? Wir wissen es nicht.“

Wir lesen, er hat geschrieben: „Frei sei’n, wie Schwalben, die Dichter“[3] – und hören: Er hat sechsunddreißig Jahre, seine ganze zweite Lebenshälfte minus einige Spaziergänge, in einem Turmzimmer des Städtchens Tübingen verbracht. Er hat geschrieben: „Götter wandelten einst bei Menschen, die herrlichen Musen / Und der Jüngling, Apoll, heilend, begeisternd wie du“[4] – und im Turm ist er gelandet, weil die Psychiatrie ihn nicht mehr haben wollte. Denn „bös sind / Die Pfade“[5] – und in der Psychiatrie, ist er da gelandet, weil er bei Nacht und Nebel dorthin entführt worden war, unliebsam geworden durch … ? Ja, und da wird es dann schnell wieder nebulös.

 

Probe im Theatersaal. Auf der Bühne stehen nebeneinander drei Personen.

Links: „Aus Jena bin ich geflüchtet, weil ich ein gesuchter Revolutionär war, der sich für die deutsche Republik stark gemacht hatte.“ Mitte: „Aus Jena bin ich geflüchtet, weil … [räusper] weil der Major, dessen Sohn ich unterrichtete, ein Kind mit einer Bediensteten gemacht hatte und es mir unterschieben wollte.“ Rechts: „Aus Jena bin ich geflüchtet, weil der Umgang mit den Geistern, die dort tätig waren – Schiller, Goethe, Fichte –, mich verschreckte und ich die Peinlichkeit nicht mehr ertrug.“

Aus der Sitzreihe hinter Ihnen beugt sich jemand vor, vielleicht der Regisseur, und raunt: „Das Stück heißt: Das ist Hölderlin.“

Wer in seiner Gegend wohnt, unter den idyllischen Kuppen der Schwäbischen Alb, lernt es schon in der Schule kennen – dieses Idealbild, diesen Phänotypus eines verrückt gewordenen Dichters. Ein Bild, mächtig genug, um uns immer wieder einzuholen. Egal, von welcher Seite wir uns an das Phänomen Hölderlin heranpirschen – wir landen doch unweigerlich bei ihm als … nein, nicht als Mensch. Eher als Manifestation eines extrem gelebten Lebens, und als solche zieht er uns unweigerlich mit sich in den Turm.

Die Führung kommt um die nächste Ecke gebogen. „Ja, genau. Ja, und deshalb hat er sich in den letzten Jahren auch nie mehr Hölderlin genannt. Als ihm jemand seine alten Gedichte zeigte, sagte er, jaja, die seien schon von ihm, aber der Name, der sei gefälscht, so habe er nie geheißen. Stattdessen – Achtung, hier wird es jetzt ein bisschen uneben –, also stattdessen hat er sich am liebsten Scardanelli genannt, eine Verballhornung des Wortes ‚Scharlatan‘. Zu seiner Kunst als solcher wollte er noch stehen, aber das zugehörige Leben als unverstandener Wortmensch lehnte er rigoros ab. Sie müssen sich vorstellen, er war zu dieser Zeit schon …“ Die Gruppe verschwindet um die Kurve. Im Hintergrund piept das Alarmsystem einer Ladentür.

Links: „Scardanelli, weil meine letzten Werke nicht wert sind, den Namen Hölderlin zu tragen. ‚Scardassare‘ ist Italienisch für ‚Wolle kämmen‘ – wozu wir Narren manchmal verdonnert werden.“ Mitte: „Scardanelli wegen der Fiktionalität aller Identitäten. Ein Name als Hommage: Sganarelle heißt eine beliebte Figur bei Molière.“ Rechts: „Ich wollte mich einfach über meine Besucher lustig machen. Ist Ihnen aufgefallen, dass in ‚Scardanelli‘ und ‚Hölderlin‘ sehr viele gleiche Buchstaben stecken? Mir nicht. Immerhin war ich ja verrückt geworden.“

Die Interviewte: „Es gibt noch zig weitere Deutungen, aber letztlich weiß niemand, warum er aus Frankreich geflüchtet ist. Als Hauslehrer in Bordeaux, bei einem, tja, einem wohlhabenden deutschen Weinhändler, soll er eigentlich eine gute Figur gemacht haben. Aber schon nach wenigen Monaten nimmt er die Füße in die Hand und wandert, so, wie er hergekommen ist, durch das ganze Land zurück in die Heimat, wo er als völlig veränderter Mensch ankommt.“

Und jetzt? Jetzt haben Sie plötzlich sehr viel Luft unter den Füßen. Außerdem ein dünnes Stahlgitter, durch das man hundert Meter weiter unten Bäume und frischgrüne Wiesen sieht. Die Brücke ist eins-zwanzig breit, glänzt silbrig-neu und spannt sich wie ein durchhängendes Seil von einer Talseite zur sehr weit entfernten anderen. Im nächsten Moment beginnt sie mehr und mehr zu wackeln, denn neben Ihnen stapft mit großen Schritten der Regisseur aus dem Theater vorbei. Als er fast gleichauf ist, zeigt er eine ausholende Gebärde: „Das ist Hölderlin.“ „Was? Die Brücke?“ „Klar. Denken Sie mal drüber nach.“ „Äh, ja also …… Ach, Sie meinen, wegen der Patmos-Hymne?? Weil da die Menschen ‚Söhne der Alpen‘ sind, die auf ‚leichtgebaueten Brücken‘ über den Abgrund gehen?[6]“ Doch der Regisseur wird kein bisschen langsamer und ist schon fünf Meter weiter. Dafür taucht aus der Richtung, von wo er gekommen ist, eine der Bühnengestalten auf, diesmal mit Outdoor-Funktionskleidung und Selfie-Stick. Aus dem Handy am jenseitigen Ende dringt eine Stimme, während die Gestalt sich fotografierenderweise in Szene setzt:

„Zweitausendvierzehn wurde in einem Tal hinter dem österreichischen Reutte die ‚highline 179‘ eröffnet, laut Guinness-Buch die längste Tibet-Style-Hängebrücke der Welt. Nur zweieinhalb Jahre später entstand bei Zermatt in der Schweiz die weltweit längste Fußgänger-Hängebrücke überhaupt, jedenfalls die mit dem längsten frei schwebenden Teilstück, aber es gibt auch eine ähnliche Brücke am Dachstein; der Titlis Cliff Walk gilt als höchstgelegene Hängebrücke Europas, und bei Gstaad sind mit dem Peak Walk erstmals zwei Bergspitzen verbunden worden, Haupt- und Nebengipfel des Scex Rouge. In den Alpen dieser Tage hat sich ein regelrechter Wettbewerb darum entwickelt, wer mit welcher spektakulären Konstruktion die meisten Touristen anlockt.“

Die Bühnengestalt stellt das Posieren ein und folgt dem Weg des Regisseurs. Nach fünf Metern rufen Sie ihr hinterher: „Sie wissen aber schon, dass er das metaphorisch gemeint hat, oder? So von wegen: Abgründe zwischen Menschen überbrücken; Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit … Das … das ist ja die zynischste Hölderlin-Interpretation, die mir je begegnet ist!“ Doch die Gestalt geht einfach weiter.

Vielleicht liegt es ja auch an unserer Tendenz, alles auf knappe Slogans herunterzubrechen. Bei Zermatt: die Längste. Bei Engelberg: die Höchste. In Tübingen: der Verrückteste. – Vielleicht ist es das, was uns dazu bringt, uns ein ums andere Mal auf eine halb verschwundene Biografie zu stürzen, bis das vorhandene Werk dahinter verblasst. Die Marktstrategen werden sich freuen. Der Dichter als Marke ist voll etabliert.

„Überhaupt das Thema Kapitalismus.“ Die Interviewte im Fernseher schlägt die Beine übereinander. „In der Hymne Der Archipelagus heißt es sinngemäß, einstmals hätten die Götter den Kaufmann ebenso geliebt wie den Dichter, ‚dieweil er …‘ – also ich meine, da heißt es: ‚dieweil er die guten / Gaben der Erd’ ausglich und Fernes Nahem vereinte‘[7]. Ungefähr so muss es stimmen. In seiner eigenen Epoche dagegen, in der man hochspezialisiert ist, in der man … ja, in der langsam auch das moderne Bankenwesen Gestalt annimmt, die ersten Vorboten der Industriellen Revolution auftauchen, sieht er sich mit einer Arbeitswelt konfrontiert, die zwar ‚rastlos‘ ist, ‚doch immer und immer / Unfruchtbar‘[8].“

Ein Auszoomen heraus aus dem Bild offenbart, dass der Fernseher mitten auf einer weitläufigen Wiese steht, umkränzt von Parkbäumen und zunehmend verschluckt von Nebelschwaden. Die Rückwärtsbewegung kommt erst dann zum Stoppen, als jäh der Regisseur ins Bild gerät, der mit ausholender Geste in die Landschaft weist: „Das ist Hölderlin.“ Dann geht er gemächlich hinter einen dicken Stamm und bleibt dahinter verschwunden. Dafür schälen sich von einer anderen Seite her zwei … zwei lebensgroße Gliederpuppen aus dem Nebel, eine mit weißem Hemd und zweireihigem Mantel, die andere, etwas kleinere, mit Rüschenkleid. Ihre Schritte knirschen auf dem Kies einer dunstig angedeuteten Allee. Dazu: zwei Stimmen.

Er: „Und was ist dann passiert?“ Sie: „Also stell dir vor: Ein gewisser Friedrich Hölderlin und eine gewisse Susette Gontard spazieren durch den Gräflichen Park von Bad Driburg. Er – Hauslehrer ihres Sohnes. Sie – verheiratet, seit sie fünfzehn war. Er schwimmt in Ideen. Nur nicht in solchen, die Geld einbringen. Sie schwimmt in Geld. Nur nicht in eigenem, sondern dem ihres Ehemanns.“ „Dem Grafen von Bad Driburg?“ „Nein. Er ist Bankier in Frankfurt; sein Haus hat mehr Zimmer als die meisten Schlösser der Gegend. Aber Frankfurt wird von französischen Truppen bedroht; deshalb bleibt er dort allein zurück, regelt die Geschäfte – und schickt die ganze Familie samt Hauslehrer fort in sichere Gefilde.“ „Und es kommt, wie es kommen muss?“ „Sag das nicht so! Es ist wirklich … es ist die maximale Liebe. Für ihn und für sie. Und nicht erst, seit sie gemeinsam auf Reisen sind.“

Die beiden schlendern an Ihnen vorbei, ohne Sie wahrzunehmen. „Und was ist dann passiert? Worüber haben sie geredet, so allein im Park?“ „Na ja. Wenn es Goethe gewesen wäre. Der hätte die Geschichte Wort für Wort seinem Sekretär diktiert. Aber es war Hölderlin. Und der hatte keinen Sekretär.“ „Toll.“ „Stell dir einfach vor, sie schwimmen. Die Hügel der Parklandschaft werden zu gigantischen Wellen, die hoch- und immer höher schlagen. Und beide wissen: Es sind nun mal keine Wellen, die sie über den Atlantik tragen, in ein neues Leben in Amerika.“ „Sondern … zurück?“ Sie legt einen Arm um ihn. „Schon im Herbst ist es soweit. Die Lage in Frankfurt hat sich beruhigt.“ „Und … und dann?“ „Na was wohl? Sie sind natürlich aufgeflogen.“ Das Paar wird im Nebel farblos und verschmilzt mit einer weißen Wand.

Auf der Bühne. Links: „Der Bankier hat gebrüllt.“ Mitte: „Er hat mich wortlos ins Gesicht geschlagen.“ Rechts: „Er hat seine Frau gezwungen, mir die Entlassung mitzuteilen.“

„‚[U]nd wüßten sie noch in kommenden Jahren / Von uns beiden, wenn einst wieder der Genius gilt, / Sprächen sie: es schufen sich einst die Einsamen liebend / Nur von Göttern gekannt ihre geheimere Welt.‘[9] So der Dichter siebzehnhundertneunundneunzig.“ So der Stadtführer am Ufer des Flusses Neckar; über ihm aufragend: der Turm.

Trotzdem fragt man sich ja schon, wie es sein kann, dass ein Klassiker der deutschen Literatur eine so lückenhafte Vita hat. Das ist ein Mensch, zu dessen Ehren Festivals entstehen, auf dessen Namen Züge und Schiffe getauft werden; und an jeder entscheidenden Ecke seines Werdegangs hängt ein Fragezeichen. Als ob er irgendwann im frühen Mittelalter gelebt hätte …

„… und das Fragmentarische in seiner Sprache, seinen Gedichten; dazu der Verzicht auf Reimworte, die drastischen Metaphern – all das wird einmal ungeheuer modern werden. Im Expressionismus zum Beispiel, gute hundert Jahre später.“ Eine Goethebüste mit Lorbeeren, dazu die Worte: „Jaa, der Hölterlein, der ist mir ein paarmal begegnet. Er hätte anders schreiben sollen. Mehr so wie ich.“ Hinter der Büste: der Regisseur mit ausgestrecktem Zeigefinger. „Das ist Hölderlin.“ Wie hat er in Frankreich eingekauft? Wie ist seine Wäsche sauber geworden? „Erst neunzehnhundertvierundfünfzig wurde im Nachlass eine seiner wortgewaltigsten Hymnen entdeckt, die Friedensfeier.“ „Aus der Schweiz bin ich fortgegangen, weil …“ [Schulterzucken.] „Weil …“ [Und Schulterzucken.] „Weil …“ „Das ist Hölderlin.“ Ein Würfel. Eine Katze. Ein Karussell. Ein Handy klingelt. Vielleicht sollte mal jemand eine Biografie über Scardanelli schreiben. „Dem eigentlichen Text hat er die Worte vorangestellt – Moment noch, das kann ich nicht auswendig …: ‚Ich bitte dieses Blatt nur gutmütig zu lesen. So wird es sicher nicht unfaßlich, noch weniger anstößig sein. Sollten aber dennoch einige eine solche Sprache zu wenig konventionell finden, so muß ich ihnen gestehen: ich kann nicht anders.‘[10]“ „I hätt’ au no mal ä Frag: Ich han g’hört, sie ham ihn mit so ’ner Ledermaske ruhigg’stellt, also da halt in der Psychiatrie. Weiß mer des sicher?“ Beethoven hätte mit Nudeln geworfen. „Die Theorien reichen von ‚hochgradig schizophren‘ bis hin zu: ‚Er wollte nur seine Ruhe haben‘.“ Eine kühle Brise. Ein Zwinkern. Ein New York Cheese Cake. Und dann: Treppe rauf ins Turmzimmer. „Um mein Andenken zu wahren, hat mein Zimmerwirt die meisten Aufschriebe der Turmzeit vernichtet.“ „Später übernahm seine Tochter. Sie dachten, das Zeug will sowieso keiner lesen.“ „Und niemand hat irgendwann irgendwas vernichtet.“ „… denn seine Gedichte hat er zum Schluss um Jahrhunderte in die Vergangenheit zurückdatiert, oder voraus in die Zukunft.“ „Das … ist Hölderlin!“ „Aber Freund! wir kommen zu spät“[11]

… sagt uns ein Zettel in einer Vitrine, während rundherum touristischer Applaus aufkommt. Der Stadtführer hat seinen Vortrag beendet. Keine Frage ist offen geblieben.

Natürlich können wir jetzt noch eine Weile rumjammern und sagen: Die Nicht-Biografie erzählt von einem Mann, der die menschliche Gemeinschaft besang und dafür die Quittung bekam, die seine Zeitgenossen für angemessen hielten. Wir können auch sagen: Sie ist eine Aufforderung an ferne Epochen, sich an das zu halten, was bleibt: keine Slogans, sondern Gedichte. – Oder aber wir genießen einfach den Blick hinaus aus des Dichters Turmzimmer:

Der Fluss glitzert in der Sonne. Die Touristengruppe hastet zum Bus. Kein Handy klingelt. Und auf dem Olymp feiern die Götter.

 

[1] Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte und Hyperion, 5. Aufl., Frankfurt a. M. und Leipzig 2015, S. 289.

[2] Aus „Patmos“, ebd. S. 350.

[3] Aus „Die Wanderung“, ebd. S. 325.

[4] Aus „Götter wandelten einst …“, ebd. S. 215.

[5] Aus „Mnemosyne“, ebd. S. 364.

[6] Ebd. S. 350.

[7] Ebd. S. 255.

[8] Ebd. S. 261.

[9] Aus „Götter wandelten einst …“, ebd. S. 215.

[10] Aus „Friedensfeier“, ebd. S. 338.

[11] Aus „Brot und Wein“, ebd. S. 289.

This is Hölderlin.

A homage to a man who lived and wrote by Kai Bleifuß;

English Translation: Julia C. Graney

Disheveled hair, white shirt, crooked coat with two rows of buttons: Framed by half-timbered houses, a fast-food restaurant and the branches of several fashion companies, a city guide walks through the alley, followed by a group of eavesdroppers: “… and in his elegy Bread and Wine it says: ‘But friend! we are too late’ – because there is simply not much left of the ancient harmony between gods, humans and nature. Because without people to worship them, the gods have become lonely, abstract and unapproachable. At least, that’s what the poet means.” Great idea: dressing up as Hölderlin and then talking about him in the third person. What’s the point? A man in a plaid shirt pushes himself forward: “Yes, but how did he really live in the end?” “In twenty minutes, we’ll be at the tower; there I can tell you in detail …” The guide trots around the next corner. A cell phone is ringing. And a gust of wind knocks over a sign advertising discounts.

Anyone taking a closer look at Friedrich Hölderlin, born in seventeen hundred and seventy in the southwestern part of Germany, author of the verses: “But where there is danger, / The saving also grows”, will quickly get into the situation of insulting himself as follows: Are you stupid? You wanted to take a look at Hölderlin, his poems, his intellectual achievements; but why then do you have to scratch at his life? For God’s sake, you are a literary scholar, not a biographer, so please stick to what is in the literary field!

And yet, as often as one reads Hölderlin’s hymns, odes, and elegies, the same author who wrote them often appears somewhere around the corner. Although his vita, or what is documented of it, regularly escapes the interpretation between two book covers. How is that possible?

An interviewee on the TV: “We don’t know the details. That, uhm, yes, that happens to us very often with him all the time. If you enter ‘hölderlin apollo’ into a search engine on the internet, you get a hundred and four thousand results. But none of them tells you exactly what Hölderlin actually meant, when returning from Bordeaux, after having walked more than a thousand kilometers, he wrote in a letter that he had been ‘beaten by Apollo’. Is he alluding to specific experiences in France or referring to the news of the death of his beloved Susette Gontard? We just don’t know.”

We read that Hölderlin wrote: “Free, like swallows, be the poets” – and we hear: He spent thirty-six years, the complete second half of his life minus a few walks, in a tower room in Tübingen. He wrote: “Gods once walked with men, the glorious muses / And the Young One, Apollo, healing, inspiring like you” – and he ended up in the tower. Because psychiatry no longer wanted him? For “evil are / The paths” – and rumor has that he had been admitted to the psychiatric ward in an act of kidnapping, in a night and fog action, having become disagreeable because … well, and there it quickly gets nebulous again.

 

Rehearsal in the theater hall.

Three people stand side by side on the stage.

Left: “I fled Jena because I was a wanted revolutionary who had campaigned for the German Republic.”

Middle: “I fled Jena because … [clears throat] because the major whose son I taught had made a child with a servant and wanted to foist it on me.”

Right: “I fled Jena because dealing with the spirits who were active there – Schiller, Goethe, Fichte – frightened me and I could no longer bear the embarrassment.”

From the row of seats behind you, someone leans forward, perhaps the director, murmuring, “The play is called: This is Hölderlin.

 

Those who live in his region, among the idyllic hilltops of the Swabian Jura, already get to know it in school – this ideal image, this phenotype of a poet gone mad. An image powerful enough to catch up with us again and again. No matter from which side we approach the phenomenon of Hölderlin – we inevitably end up with him as … no, not as a human being. Rather as a manifestation of a life lived in the extreme, and as such he inevitably draws us into the tower with him.

 

The guided tour turns around the next corner. “Yes, exactly. Yes, and that’s why he never called himself Hölderlin in recent years. When someone showed him his old poems, he said, sure, they were by himself, but the name was fake, that was never his name. Instead – attention, here it becomes now a little uneven -, thus instead he called himself Scardanelli, a verbalization of the word ‘charlatan’. He still wanted to stand by his art as such, but he rigorously rejected the associated life as a misunderstood wordsman. You have to imagine, he was by this time …” The group disappears around the bend. In the background, the alarm system of a store door beeps.

On the left: “Scardanelli, because my last works are not worthy to bear the name Hölderlin. ‘Scardassare’ is Italian for ‘combing the wool’ – which we fools are sometimes condemned to do.”

Central: “Scardanelli because of the fictionality of all identities. A name in homage: Sganarelle is the name of a popular character in Molière.”

On the right: “I just wanted to make fun of my visitors. Did you notice that the words ‘Scardanelli’ and ‘Hölderlin’ contain a larger number of equal letters? I didn’t. After all, I had gone mad.”

The interviewee: “There are dozens of other interpretations, but ultimately no one knows why he fled France. As a tutor in Bordeaux, for a, well, a wealthy German wine merchant, he is supposed to have cut a good figure. But after only a few months, he takes to his feet and wanders, just as he came, across the country back to his homeland, where he arrives a completely changed man.”

And now? Now you suddenly have a lot of air under your feet. Also, a thin steel grid through which you can see trees and fresh green meadows a hundred meters further down. The bridge is one-twenty wide, shines silvery-new and stretches like a sagging rope from one side of the valley to the very distant other. The next moment, it begins to wobble more and more, as next to you, the director from the theater passes by with big strides. When he is almost at the same level, he shows a sweeping gesture, “This is Hölderlin.” “What, the bridge?” “Sure. Think about it.” “Uh, yeah so …… Oh, you mean because of the Patmos Hymn??? Because there people are ‘sons of the Alps’ walking on some ‘light built bridges’ over the abyss?”

But the director doesn’t slow down and is already five meters away. Instead, one of the stage figures emerges from the direction he came from, this time with outdoor functional clothing and a selfie stick. A voice comes out of the cell phone at the far end, while the figure takes a picture of himself:

“Two thousand fourteen, the ‘highline 179’ was opened in a valley behind Reutte in Austria, according to the Guinness Book the longest Tibet-style suspension bridge in the world. Only two and a half years later, the world’s longest pedestrian suspension bridge ever was erected near Zermatt in Switzerland, at least the one with the longest free-floating section, but there is also a similar bridge on the Dachstein; the Titlis Cliff Walk is considered the highest suspension bridge in Europe, and with the Peak Walk near Gstaad, two mountain peaks have been connected for the first time, the main and secondary summit of the Scex Rouge. In the Alps these days, a real competition has developed to see who will attract the most tourists with what spectacular construction.”

The stage persona stops posing and follows the director’s path. After five meters, you call after him: “You do know that he meant that metaphorically, don’t you? True to the motto: Bridging chasms between people; freedom, equality, brotherhood … That … that’s the most cynical Hölderlin interpretation I’ve ever come across!” But the figure simply continues.

Perhaps it’s also due to our tendency to break everything down into succinct slogans. Near Zermatt: the longest. Near Engelberg: the highest. In Tübingen: the craziest. – Maybe that’s what makes us pounce on a half-disappeared biography one after the other until the existing work fades behind it. The market strategists will be pleased. The poet as a brand is fully established.

“Well, this whole issue of capitalism.” The interviewee on the television crosses her legs. “In the hymn The Archipelago, it says that the gods once loved the merchant as much as the poet, ‘because he …’ – I think it says: ‘because he balanced the good / gifts of the earth and united the distant with the near’. It must be about right like that. In his own epoch, on the other hand, in which one is highly specialized, in which one … yes, in which the modern banking system is slowly taking shape, in which the first harbingers of the Industrial Revolution emerge, Hölderlin sees himself confronted with a world of work that is ‘restless’, ‘yet always and always / Infertile’.”

Zooming out of the picture reveals that the TV is standing in the middle of a spacious meadow, surrounded by park trees and increasingly swallowed up by clouds of fog. The backward movement only comes to a halt, when the director abruptly enters the picture and gestures out into the landscape: “This is Hölderlin.” Then he walks leisurely behind a thick trunk and remains disappeared behind it. Instead, from another side, two … two life-size mannequins rise out of the mist, one with a white shirt and double-breasted coat, the other, somewhat smaller, with a ruffled dress. Their footsteps crunch on the gravel of a vaguely implied avenue. In addition: two voices.

He: “And then what happened?” She: “Well, just imagine: A certain Friedrich Hölderlin and a certain Susette Gontard are walking through the Count’s Park in Bad Driburg. He – tutor of her son. She – married since she was fifteen. He is swimming in ideas. Only not in those that bring in money. She is swimming in money. Only not in her own, but in her husband’s.” “The Count of Bad Driburg?” “No. He’s a banker in Frankfurt; his house has more rooms than most castles in that region. But Frankfurt is threatened by French troops; so he stays behind there alone, settles the business – and sends the whole family, including the tutor, away to safe grounds.” “And it comes as it must?” “Don’t say it like that! It’s really … it’s maximum love. For him and for her. And not just since they started traveling together.”

The two pass by without noticing you. “And then what happened? What did they talk about, alone in the park like that?” “Well. If it had been Goethe. He would have dictated the story word for word to his secretary. But it was Hölderlin. And he didn’t have a secretary.” “Great.” “Just imagine them swimming. The hills of the parkland become gigantic waves, crashing high and higher. And they both know: It’s not waves that will carry them across the Atlantic to a new life in America.” “But … back?” She puts an arm around him. “It’s already autumn. The situation in Frankfurt has calmed down.” “And … and then?” “Well, what do you think? They got caught out, of course.” The couple becomes colorless in the fog and merges with a white wall.

On stage. On the left: “The banker was yelling.” At center: “He slapped me in the face without a word.” On the right: “He forced his wife to tell me that I had been dismissed.”

“’[A]nd would they still know in years to come / Of us two, when once again the genius will hold true, / Would they say: once the lonely created themselves loving / Only known by gods their more secret world.’ Thus, the poet seventeen hundred and ninety-nine.” Thus, the city guide on the banks of the river Neckar; rising above him: the tower.

Nevertheless, one does wonder how it can be that a literary classic of German literature has such a sketchy biography. This is a man in whose honor festivals are held, in whose name trains and ships are christened; and at every decisive corner of his career there is a question mark. As if he had lived sometime in the early Middle Ages …

“… and the fragmentary nature of his language, his poems; in addition, the renunciation of rhyming words, the drastic metaphors – all this will one day become tremendously modern. In Expressionism, for example, a good hundred years later.” A bust of Goethe with laurels, and the words: “Yes, Hölterlein, I’ve met him a few times. He should have written differently. More like me.” Behind the bust: the director with his index finger extended. “This is Hölderlin.” How did he shop in France? How did his laundry get clean? “It wasn’t until nineteen hundred and fifty-four that one of his most eloquent hymns, the Peace Celebration, was discovered in his estate.” “From Switzerland I left because …” [Shoulder shrug.] “Because …” [And shoulder shrug.] “Because …” “This is Hölderlin.” A cube. A cat. A carousel. A cell phone rings. Maybe someone should write a biography of Scardanelli sometime. “To the actual text he prefaced the words – wait a minute, I don’t know this by heart …: ‘I ask that this sheet be read only benevolently. Thus it will certainly not be incomprehensible, still less offensive. But if, nevertheless, some should find such language too unconventional, I must confess to them: I cannot help it.’” “I also have a question: I heard that they sedated him with a leather mask, in the psychiatric ward. Do we know that for sure?” Beethoven would have thrown noodles. “The theories range from ‘highly schizophrenic’ to: ‘He just wanted to have his peace’.” A cool breeze. A wink. A New York cheesecake. And then: upstairs to the Tower Room. “To preserve my memory, my landlord destroyed most of the write-ups from the tower days.” “Later, his daughter took over. They thought no one would want to read that stuff anyway.” “And no one ever destroyed anything.” “… because in the end he backdated his poems by centuries into the past, or ahead into the future.” “This … is Hölderlin!” “But, friend, we’re too late” –

… a note in a display case tells us, while tourist applause arises all around. The city guide has finished his lecture. No question has remained unanswered.

Of course, we can now whine for a while and say: The non-biography tells of a man who sang about the human community and got the acknowledgment for it that his contemporaries considered appropriate. We can also say: it is an invitation to distant eras to stick to what remains: not slogans, but poems. – Or we can simply enjoy the view out of the poet’s tower room:

The river glistens in the sun. The group of tourists hurries to the bus. No cell phone rings. And on Mount Olympus, the gods are celebrating.

 

 

For References see left column.