Amadé Esperer: Lieber Kai, man kennt dich als Autor vor allem durch deine Kurzprosa. Nun hast du 2019 diesen, wie ich finde, stilistisch sehr interessanten, innovativen Band Träumen im Steilhang bei Modo veröffentlicht. Darin hast du dich nicht damit begnügt, „nur“ im Text-Modus zu erzählen, sondern hast die Texte auch noch optisch so gestaltet. Wie bist du auf diese Idee gekommen?
Kai Bleifuß: Ich gehöre zu der speziellen Sorte Mensch, die sich stundenlang in Landkarten vertiefen kann. Ob Gebirge oder Großstadt, ich erschließe mir Orte gerne erst mal mit dem Finger auf dem Papier. Und als ich 2008 meine erste Geschichte mit visuellen Elementen geschrieben habe, ist die Idee dafür genau aus diesem Interesse erwachsen: Herausgekommen ist ein Text, der in Neapel spielt und sich optisch teilweise am Kästchenraster der dortigen Altstadt orientiert – gewissermaßen aus der Satellitenperspektive. Der Text ist übrigens auch in Träumen im Steilhang abgedruckt. 2018 erhielt ich dann ein Stipendium der Kunsthalle Göppingen, das auf Verbindungen zwischen Literatur und Bildender Kunst ausgerichtet war, und mir kam der Gedanke, mein altes Experiment auszubauen und ein ganzes Buch zu gestalten, in dem literarische Erzählungen gleichzeitig auch Grafiken sind.
A.E.: Die Idee, Text und Bild miteinander zu kombinieren, drückt den Texten eine stilistische Signatur auf, die man auch als Statement verstehen könnte, dass du beide Kunstformen, Text und Bild, als gleichwertig ansiehst. Hat das mit der Tatsache zu tun, dass du außer Germanistik auch Kunstgeschichte studiert hast?
K.B.: Dank guter Professorinnen und Professoren konnte ich in meiner Ausbildung viel darüber lernen, was eine gelungene Komposition ausmacht – in der Literatur und der Bildenden Kunst. Dieses doppelte Fundament ist mir sehr wichtig. Aber man muss dann auch darauf aufbauen und das Haus mit Leben füllen. In der Kunsthalle hatte und habe ich noch immer viel Kontakt mit Kulturschaffenden aus dem visuellen Bereich; ich schreibe auch relativ häufig literarische Beiträge für Kunstkataloge, und aus dieser ganzen Prägung heraus ist es nur natürlich, unterschiedliche Ausdrucksformen von Kunst als eine große Einheit zu betrachten.
A.E.: Der Band Träumen im Steilhang beinhaltet insgesamt 28 Kurzgeschichten. Alleine diese Geschichten zu schreiben braucht seine Zeit. Aber sie zusätzlich noch opto-artistisch zu gestalten, wie ich es nennen möchte, beansprucht doch noch ungleich sehr viel mehr Zeit. Wie lange hast du für die Manuskript-Herstellung insgesamt gebraucht?
K.B.: Von ein paar Ausnahmen abgesehen, die vor- oder hinterher entstanden sind, habe ich fast alle Geschichten während meines Stipendiumsjahrs geschrieben beziehungsweise gestaltet. Das Korrekturlesen hat danach allerdings noch einmal ein paar Monate in Anspruch genommen. Es gibt im Buch ja Texte, bei denen man quasi keinen einzigen Buchstaben herausnehmen oder hinzufügen könnte, ohne dass sich das Gesamtbild verschiebt. Das macht es nicht gerade leichter, beim Korrigieren zum Beispiel ein Wort durch ein anderes zu ersetzen oder den Inhalt eines Satzes noch zu verändern.
A.E: Was war vorher da, die Text-Idee oder die Idee zum Bild? Hat dich der Text zum Bild inspiriert oder umgekehrt?
K.B.: Beides hat sich weitgehend parallel entwickelt. Ich habe bei mir zu Hause noch einen Altbestand an Endlospapier gefunden, wie man es für bestimmte Druckertypen verwendet. Das habe ich zweckentfremdet, um handschriftlich zwei meterlange Listen anzulegen: links die Ideen für Geschichten, rechts die Ideen für Bilder. Nicht alles war gleichermaßen ausgegoren, aber im Prinzip brauchte ich am Ende nur das Papier ganz auszuklappen, um die Stichworte und Skizzen auf einen Blick vor mir zu haben und zu entscheiden, welche Optik sich am sinnvollsten mit welcher Handlung kombinieren lässt.
A.E.: Was war die Motivation für die Kreation von figurierter Prosa?
K.B.: Was ich als Leser wie als Autor sehr schätze, ist eine Prosa, die in meiner Fantasie möglichst plastische Bilder hervorbringt. In meinen Texten versuche ich oft, durch sprachliche Mittel eine Atmosphäre zu kreieren, die sich dem Publikum sinnlich erschließt und in die man leicht eintauchen kann. Entsprechend nahe liegt mir die Idee von Literatur als Kino im Kopf. Aber irgendwann waren mir die Bilder der Sprache nicht mehr genug. Es ist doch richtig, richtig aufregend, wenn die Welten, die das Erzählen entstehen lässt, in ein Spannungsverhältnis treten zu Bildern auf der optischen Ebene. Wenn sie sich gegenseitig beeinflussen, in Konkurrenz geraten, sich widersprechen und schließlich doch zusammenfinden. Ich glaube, dem Erlebnis beim Lesen einer Geschichte kann das nur zuträglich sein. Jedenfalls wenn die grafische Dimension richtig gewählt ist.
Was ich als Leser wie als Autor sehr schätze, ist eine Prosa, die in meiner Fantasie möglichst plastische Bilder hervorbringt.
Bis zu einem gewissen Grad merke ich bei klassisch gedruckter, nicht-visueller Literatur: Wenn mich das Cover anspricht, das zum Beispiel eine luftige Stadtlandschaft zeigt, dann färbt sich das buchstäblich auch auf meine Wahrnehmung der Ereignisse ab, von denen das Buch erzählt. Ich stelle mir zunächst einmal vor, wie sich etwa die Handlung eines Romans in einer ganz ähnlichen Welt wie der des Bildes entfaltet. Ich bin aber auch offen dafür, wenn mich der Plot dann in eine andere Richtung schickt. Gerade in solchen Fällen kommt am Ende womöglich etwas Neues, ein Gesamtkunstwerk von Wort und Bild heraus. – Soweit die Theorie. Aber ich wollte auch einfach mal ein Buch haben, das so groß, bunt und ansprechend ist wie die wunderschönen Ausstellungskataloge von Bildenden Künstlern, wie ich sie so oft in Museumsshops sehe …
A.E.: Apropos Fantasie. Wenn doch ein gut geschriebener Text in der Lage ist, alleine mit Worten unsere Fantasie zu entfachen, besteht dann nicht die Gefahr, dass man durch die zusätzliche geometrische Gestaltung des Textes die Fantasie beim Leser ausbremst oder, um es weniger drastisch zu sagen, in eine bestimmte Richtung lenkt und so den Fantasieraum einschränkt?
K.B.: So gesehen dürfte ein Kinofilm ja gar nicht funktionieren. Immerhin wird dort noch viel mehr vorgegeben: Wir bekommen en détail gezeigt, wie die handelnden Personen und die Umgebung, in der sie sich aufhalten, aussehen. Und trotzdem gibt es viele Menschen, mich eingeschlossen, die gerne ins Kino gehen. Kann es nicht auch inspirierend sein, sich auf den Wolken einer fremden Fantasie mittragen zu lassen? Mal davon abgesehen glaube ich, dass mein Prosaband schon noch im Wesentlichen wie ein klassisches Buch tickt. Es bietet jede Menge „Leerstellen“ zum Auffüllen durch eigene Gedanken, und bei seiner Lektüre werden so viele unterschiedliche Filme entstehen, wie es Leserinnen und Leser findet: in den Köpfen des Publikums. Die visuelle Gestaltung betrachte ich dabei nicht als einschränkend, sondern als ein zusätzliches Angebot. Als Anregung zu Ideen, auf die man ohne die grafische Dimension womöglich gar nie gekommen wäre.
A.E.: Gab es Vorbilder, an denen du dich orientieren konntest? Wenn ja, welche waren das?
Meistens faszinieren mich Romane oder Erzählungen, die Alltägliches und Surreales zusammenbringen, am besten noch in Kombination mit kantigen Charakteren
K.B.: In Sachen Optik ist da sicher die Konkrete Poesie ein Thema, die aber im Grunde ganz anders funktioniert als meine Texte. Ein Gedicht, das nur aus dem Wort „Apfel“ besteht und sich durch dessen x-fache Wiederholung zur Form eines Apfels zusammensetzt, ist ohne diese besondere optische Dimension gar nicht denkbar. Die Erzählungen aus Träumen im Steilhang schon.
Vorbilder im engeren Sinn finde ich eher auf der Ebene des Erzählens selbst. Meistens faszinieren mich Romane oder Erzählungen, die Alltägliches und Surreales zusammenbringen, am besten noch in Kombination mit kantigen Charakteren, skurrilen Handlungselementen, relevanten Fragen, die mir begegnen… Man denke an den Magischen Realismus aus Südamerika. Oder auch an Haruki Murakami, T.C. Boyle, John Irving, Daniel Kehlmann… Von einer „Orientierung“ an anderen Büchern zu sprechen, würde allerdings zu weit gehen. Ich will ja etwas Eigenes hervorbringen, das man so noch nicht an zig anderen Orten findet. Trotzdem bin ich froh, wenn ich hoffen kann, mit dem, was mir gefällt, nicht ganz allein auf weiter Flur zu sein.
A.E.: Okay, die genannten Romanciers mögen dich über ihre Texte inspirieren, aber weder Marquez, der ja neben Günter Grass als Erfinder des Magischen Realismus gilt, noch die von dir namentlich zitierten Autoren haben meines Wissens ihre Texte mit geometrischen Interventionen angereichert, sondern waren rein textlich unterwegs. Woher stammt also die Anregung, Opto-Art in deine Texte hinein zu montieren?
K.B.: Ich könnte jetzt noch mit der Konkreten Kunst anfangen. Etwa mit Anton Stankowski, der für seine Formexperimente aber wiederum ohne Text auskam. Im Wesentlichen jedenfalls. Letzten Endes muss ich wohl sagen, dass diese spezielle Kombination aus Literatur und Grafik aus mir selbst heraus entstanden ist. Das gilt vor allem für das Konzept, nicht einfach nur ein Stück Prosa in eine optische Form zu packen, sondern eine richtige Erzählung mit allem drum und dran – mit agierendem Personal, einer Motivstruktur, mit einer Handlung und einem Spannungsbogen, die genau dann zum Abschluss kommen, wenn der sichtbare Rahmen keinen Platz mehr für weiteren Text bietet. Dafür hatte ich keine Vorlagen.
A.E.: Dann hast du hier also Neuland betreten und eine ganz eigene Stilrichtung, ich möchte sogar sagen, ein neues Genre erfunden. Würdest du das auch so sehen?
K.B.: Tja. In Hollywoodproduktionen würden die Leute verlegen grinsen und sagen: „Schuldig im Sinne der Anklage.“ Bei fast acht Milliarden Menschen auf der Welt ist es natürlich nicht ganz unplausibel, dass irgendwo schon etwas Vergleichbares existiert. Aber wenn, hatte ich keine Kenntnis davon, und entsprechend keine Gelegenheit, es als Schablone für mein Buch zu nutzen.
A.E.: Durch die Miteinbeziehung der geometrischen Sprache zusätzlich zur Textsprache hast du nicht nur einen besonderen Stil kreiert, sondern dir auch noch eine Möglichkeit geschaffen, dich extrasprachlich auszudrücken, dergestalt, dass du quasi einen nichtsprachlichen Kommentar des Geschriebenen gleich zu deinen Geschichten mitlieferst. Sehe ich das richtig, oder interpretiere ich zu viel hinein?
Die Grafiken kommentieren die Texte, die Texte kommentieren die Grafiken
K.B.: Das war genau meine Intention. Schön, dass du es auch so siehst. Die Grafiken kommentieren die Texte, die Texte kommentieren die Grafiken und im Idealfall entsteht eine Art Dialog – oder musikalisch ausgedrückt eine Fuge mit verschiedenen Stimmen, die sich durch ihr Zusammenwirken ergänzen. Häufig verwende ich pro Geschichte ja auch mehrere Bilder und mehrere Handlungsstränge, die alle kreuz und quer aufeinander einwirken, bis sich dann möglichst ein großes Ganzes ergibt.
A.E.: Die opto-artistische Gestaltung der Texte in dem Band Träumen im Steilhang war, wie ich deinen Ausführungen entnehme, für dich als Autor zeitraubend. Aber ohne einen Verlag, der deine Vorgaben realisieren konnte, hätte das Buch ja nie entstehen können. Was musste der Verlag mitbringen, damit er dein Manuskript umsetzen konnte?
K.B.: Als Kunstverlag hat Modo viel Erfahrung darin, Bücher mit Bildmaterial zu realisieren. Meine Grafik- und Fotodateien waren zwar schon so angelegt, dass man sie gut übernehmen konnte, aber ich fand es wichtig, jemanden an meiner Seite zu haben, der mir hilft, an einem schlüssigen Gesamtkonzept zu feilen.
A.E.: Benutzt du die opto-artistische Textgestaltung auch manchmal kontrapunktisch zum Textinhalt? Also in dem Sinn, dass die Figurierung dem Textinhalt widerspricht, etwas anderes aussagt? Falls ja, könntest du das an einem konkreten Beispiel erläutern?
K.B.: Solche Elemente kommen immer wieder vor. Die Geschichte „Umbruch“, eine der wenigen ohne festgelegte Handlungsabfolge, erzählt davon, wie Menschen von den absurdesten Katastrophen heimgesucht werden. Selbst die Möglichkeit einer Pandemie wird schon angedeutet; es ist die Rede von „Erreger[n] einer fiesen Saurierseuche“, die „aus dem Eis des Himalaya kugeln“. Aber gestaltet ist der Text wie ein nettes Kinderspiel. Als würden ein paar Zehnjährige bei einer Geburtstagsfeier ausknobeln, ob wir ein schönes Leben haben oder grandios auf die Nase fallen.
Ähnlich und doch ganz anders ist die Situation in „Das Böse“. Dort werden auf optischer Ebene die Träume der Erzählerin sichtbar, die in Worten nirgends ausformuliert sind. Und oft geraten die Bilder dabei in Widerspruch zu den Versuchen der Hauptfigur, sich die Ereignisse um sie her schönzureden.
Ich habe es allerdings vermieden, einen Text zu schreiben, der ohne Einbezug der visuellen Dimension unvollständig wirkt. Das hätte meinem Wunsch widersprochen, dass die Literatur für sich stehen und auf Augenhöhe einer genauso selbständigen Bilderwelt begegnen soll.
A.E.: Hast du eine bestimmte Vorstellung darüber, in welchem Verhältnis bei einer bestimmten Geschichte das Ausmaß der geometrischen Gestaltung dieser Geschichte zur Länge der jeweiligen Texte stehen sollte? Gibt es da für dich ein Optimum?
K.B.: Dafür habe ich keine generelle Regel. Wenn ich weiß, dass ein Stück Prosa eher länger werden wird, fallen natürlich aus praktischen Gründen alle Konzepte weg, bei denen ich nicht viel Text unterbringen könnte. Das heißt jedoch nicht, dass längere Erzählungen grundsätzlich weniger optische Begleitung vertragen.
A.E.: Die geometrische Gestaltung eines Textes kann ja auch abträglich sein. Etwa, wenn der Leser durch zu viel Form und Farbe vom Textinhalt abgelenkt wird. Gibt es da einen Schutz vor Manierismus?
K.B.: Meiner Erfahrung nach ist in der deutschen Literaturszene die Angst vor einem Zuviel weit verbreiteter als die vor einem Zuwenig. Ich spreche da besonders für die epische Variante des Schreibens. Es hat etwas Anrüchiges, Manierist zu sein, während man sich scheinbar völlig ungefährdet durch diverse Spielarten des Minimalismus bewegen kann. Dabei gibt es dort mindestens genauso viele Untiefen. Allen voran die, dass man zu wenig Material liefert, um die Lust am kreativen Prozess des Lesens überhaupt erst anzufachen. Für mich ist ein Zuviel gar nicht so schnell erreichbar. Den Besuch in einer stilvoll überladenen Barockkathedrale erlebe ich wie ein erfrischendes Bad. Kann sein, dass der Kopf erst mal leergespült wird und sich kategorisch weigert, sinnvolle Gedanken zu produzieren. Aber irgendwann geht man hinaus, blinzelt in die Sonne und spaziert durch die Straßen von Neapel an die Uferpromenade – und auf einmal kann man viele Notizbuchseiten mit neuen Stichworten vollkritzeln.
A.E.: Wirst du in Zukunft alle deine Kurzgeschichten opto-artistisch gestalten?
K.B.: Eher nicht. Nachdem ich jetzt schon einiges in dieser Richtung ausprobiert habe, ist mein Bedürfnis nach Geschichten in Bildern nicht mehr so unstillbar wie noch vor zwei, drei Jahren. Trotzdem spielt das Visuelle auch heute eine Rolle. Zurzeit arbeite ich an Fotocollagen für mein aktuelles Romanprojekt. In den Text integriert oder physisch mit ihm verbunden sind sie nicht; sie sollen ihm gegenüberstehen. Aber auf jeden Fall sind sie mehr als bloße Illustration. Wenn sich kein Verlag finden sollte, der beides zusammen umsetzt, könnte ich den Roman auch gut und gern „pur“ herausbringen, ohne Bebilderung. Aber vielleicht geht ja auch mehr.
A.E.: Aha. Das wäre ja ein raffinierter Schachzug: Durch Addierung von Fotocollagen den buchstabengebundenen Erzähltext kürzer gestalten zu können. Ist das der Hintergedanke dabei?
K.B.: In diesem Sinn eigentlich nicht. Der Text, also die Handlung, soll nicht dadurch eingeschränkt werden, dass ich Bildmaterial verwende. Und ich möchte das Erzählen auch nicht durch Bilder ersetzen. Schon klar, es wird nicht ganz einfach sein, beidem gerecht zu werden und dabei nichts ausufern zu lassen …
A.E.: Denn großzügige Bebilderung eines Romantextes ergäbe ja eher ein dickeres Konvolut. Selbst wenn du kürzere Erzählformen (Novelle) ins Auge fasstest, eine mit dem Text intensiv interagierende opto-artistische Gestaltung würde da wohl an Umfangsgrenzen stoßen?
K.B.: Na ja. Nehmen wir an, die Geschichte braucht ihre 500 Seiten. Dann könnte ich immer noch 250, 300 Bildseiten einfügen, ohne auf eine für Romane unübliche Dicke zu kommen. Selbst mit einem Verhältnis von 600 zu 300 könnte ich noch leben.
A.E.: Zu guter Letzt möchte ich noch kurz die Lesegewohnheiten ansprechen, die du mit deiner „Konkreten Prosa“ ja ganz schön durcheinanderwirbelst. Man muss deine „Träume im Steilhang“ ja ständig drehen und wenden, um den teils linksquer, teils rechtsquer, teils auf dem Kopf stehenden Texten zu folgen. War das etwa Absicht? Wolltest du unser eingeschliffenes Leseverhalten provozieren und dadurch mehr Aufmerksamkeit erreichen?
Eine Plastik in einem Ausstellungsraum erschließt sich auch oft erst, wenn man sie ein paarmal umkreist hat.
K.B.: Sowieso. Eine Plastik in einem Ausstellungsraum erschließt sich auch oft erst, wenn man sie ein paarmal umkreist hat. Aber vielleicht bleibt sie durch diese Interaktion dann besser in Erinnerung. Ich glaube, nach etwas Gewöhnung ist es ziemlich einfach, die Texte in ihrer grafisch durchgestalteten Form auch inhaltlich in sich aufzunehmen.
Leuten, die eher klassisch-bibliophil unterwegs sind, kann ich allerdings sagen, dass meine Geschichten im hinteren Teil des Buchs noch ein zweites Mal wiedergegeben sind: in einer „Leseversion“ mit normalem Drucksatz.
A.E.: Kai, wie ich weiß, arbeitest du zurzeit an einem Roman. Wovon wird er handeln? Kannst du uns das Projekt kurz umreißen? Gibt es schon einen Titel?
K.B.: Ein Titel, mit dem ich zufrieden wäre, hat sich bisher noch nicht gefunden. Die Handlung ist in drei große Abschnitte unterteilt und spielt auf drei Zeitebenen. Der erste Teil, der jetzt quasi fertig ist, dreht sich um eine jüdische Exilantin in London während des Zweiten Weltkriegs; und auch hier nehmen Träume wieder viel Raum ein: Sie gewinnen immer mehr die Oberhand über ihr Leben. Vieles, was der Protagonistin irgendwann im Wachzustand passiert sein muss, kann man beim Lesen nur indirekt rekonstruieren, indem man ihre Erlebnisse während des Schlafens deutet. Für dieses erste Drittel sind auch die Bildcollagen gedacht, die gerade entstehen. Teil zwei befasst sich mit einem selbsternannten „Forscher“ aus unserer Gegenwart, der so einiges aufmischt und Fans findet, obwohl er kein einziges handfestes Ergebnis vorweisen kann. Und Teil drei spielt in der Zukunft, auf einer von Menschen geschaffenen Touristeninsel weit draußen im Ozean, die schlagartig von der Zivilisation abgeschnitten wird. Den Plan dafür gab es übrigens schon vor Corona. Mal sehen, was im Schreibprozess noch daraus wird.
A.E.: Lieber Kai, ich danke dir, dass du uns diese hochinteressanten Blicke in deine Textwerkstatt gewährt hast.
K.B.: Besten Dank meinerseits für dein Interesse!