Begrüßung - Lesung - Interview

WÜRZBURGER AMICHAI-LESUNG 2020

Würzburger Amichai-Gedächtnis-Lesung 2020

Seit drei Jahren führt nun LitPro Würzburg e.V. schon die Würzburger Amichai -Lesung zum Gedenken an Jehuda Amichai unter dem Patronat der Stadt Würzburg durch. Mit der Würzburger Amichai-Lesung soll dem großen Sohn der Stadt gedacht werden, der 1924 hier als Ludwig Jehuda Pfeuffer geboren wurde und vor 20 Jahren in Jerusalem verstorben ist.

Dieses Jahr wurden wegen der Corona-Pandemie die Vorträge digital aufgezeichnet. An das Grußwort von Christian Schuchardt, des Würzburger Oberbürgermeisters und Schirmherren der Amichai-Lesung, schließt sich die literarische Lesung an. Hierfür hat der  international bekannte Würzburger Lyriker Amadé Esperer besondere Café-Gedichte Amichais ausgewählt und übersetzt, die eng mit Amichais Biographie assoziiert sind und darüber hinaus eine bedeutsame stilistische Wende in Amichais Oeuvre markieren. Abgerundet wird die diesjährige Amichai-Lesung durch ein Interview mit dem bekannten fränkischen Autor Helmut Haberkamm, der Jehuda Amichai 1992 in Jerusalem besucht hat.

Christian Schuchardt

(Oberbürgermeister)

Amadé Esperer

(Initiator)

Helmut Haberkamm*

(Zeitzeuge)

Grußwort des Oberbürgermeisters
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Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich möchte Sie ganz herzlich zur diesjährigen Amichai-Gedächtnis-Lesung willkommen heißen. Dieses Jahr ist für die Amichai-Lesung ein besonderes Datum. Nicht nur, dass sie wegen der COVID19-Pandemie, anders als gewohnt im Internet stattfindet, bedeutsamer noch ist, dass sich dieses Jahr der Tod von Jehuda Amichai zum 20ten Mal jährt. Der weltberühmte israelische Dichter verstarb am 22. September 2000 in seiner Wahlheimatstadt Jerusalem. Geboren wurde er aber vor 96 Jahren in Würzburg, und zwar am 3. Mai 1924 als Ludwig Jehuda Pfeuffer.
Bis zu seinem zwölften Lebensjahr lebte Ludwig Jehuda Pfeuffer behütet in einem jüdisch-orthodoxen Elternhaus. Sein Vater, Friedrich Pfeuffer stammte aus Giebelstadt bei Würzburg, und seine Mutter, Frieda Pfeuffer, die eine sehr gebildete Frau war, aus dem hessischen Gersfeld. Friedrich Pfeuffer hatte als Soldat für das Deutsche Reich im Ersten Weltkrieg gekämpft und kam dekoriert aus dem Feld zurück. In Würzburg baute er sich nach dem Krieg, zusammen mit seinem Bruder, einen Fachhandel für Posamenten auf.

Die Pfeuffers waren angesehene Bürger der Stadt und engagierten sich sehr in der jüdischen Gemeinde und Synagoge. Ludwig Jehuda und seine Schwester Ruth verbrachten denn auch eine sehr behütete Kindheit in Würzburg, besuchten hier den jüdischen Montessori-Kindergarten und die jüdische Grundschule. Bis schließlich auch in Würzburg der nationalsozialistische Terror so groß wurde, dass sich die Mitglieder der jüdischen Gemeinde nicht mehr sicher fühlen konnten, und Friedrich Pfeuffer 1936 beschloss mit seiner Familie und allen fränkischen Verwandten nach Palästina auszuwandern.
In Palästina und im späteren Israel wurde Ludwig Pfeuffer schnell heimisch, da er sehr sprachbegabt war und sich rasch das moderne Hebräisch aneignete. Nach dem Abitur schloss sich der junge Mann der britischen Armee an und studierte nach Ende des Zweiten Weltkrieges zunächst Pädagogik in Haifa, später in Jerusalem Bibelwissenschaften und hebräische Literatur. Seinerzeit legte er seinen alten Exilnamen Pfeuffer ab und nahm den hebräischen Namen Amichai an, was auf Deutsch „mein Volk lebt“ heißt. Damit wollte er auch nach der Shoah ein Zeichen für sein Judentum setzen.

Ich sehe in den jährlichen Amichai-Lesungen auch eine schöne Möglichkeit, Namen und Werk des weltberühmten israelischen Dichters aus Würzburg auf adäquate Weise im kulturellen Gedächtnis seiner Geburtsstadt zu verankern und lebendig zu halten.

Beim dritten Mal darf man ruhig schon von einer Tradition sprechen, solche Traditionen sind es unbedingt wert, unterstützt zu werden, dienen sie doch der Völker-Verständigung und setzen in einer Zeit, da wieder vieles ins Wanken zu geraten droht, ein deutliches Zeichen für Toleranz und Anti-Semitismus.
Getreu dem Motto „Ovid trotzt Covid“ findet die Lesung auch dieses Jahr statt. Und zwar mit den in diesen Zeiten äußerst nützlichen Mitteln des Internets. Dafür möchte ich Herrn Esperer und auch seinen Unterstützern, dem Literaturverein Lit Pro Würzburg e.V. sowie dem Team der internationalen und multilingualen Literaturzeitschrift ARIEL-ART Dank und Anerkennung aussprechen.
Ich hoffe, dass wir uns nächstes Jahr wieder unter normaleren Bedingungen persönlich zur Amichai-Lesung 2021 treffen können und verbleibe bis dahin mit den besten Wünschen für alle, die der diesjährigen Lesung telematisch beiwohnen.

Lassen Sie mich mit einer Verszeile von Jehuda Amichai enden: „Erinnern und blühen, blühen und erinnern, das ist alles“.
Ihr
Christian Schuchardt
Oberbürgermeister

Literarische Lesung (Amadé Esperer)
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Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich begrüße Sie ganz herzlich zur diesjährigen Würzburger Amichai-Lesung. Es ist bereits die dritte Lesung, die wir zu Ehren von Jehuda Amichai durchführen, der 1924 in Würzburg als Ludwig Jehuda Pfeuffer geboren wurde und die hebräische Lyrik revolutionieren und zu dem international erfolgreichsten Lyriker Israels werden sollte.
Wegen der Corona-Pandemie bieten wir Ihnen dieses Jahr die Möglichkeit, der Lesung sicher von zu Hause aus beizuwohnen.
Das Besondere an der diesjährigen Lesung ist, dass sie genau zwanzig Jahre nach dem Tod des großen Dichters, der im September 2000 in Jerusalem gestorben ist, stattfindet.
Es schien mir daher angemessen, dieses Jahr besondere Gedichte für diese Lesung auszuwählen, die ein bisschen persönlicher auf Jehuda Amichai eingehen und eine besondere Vorliebe von Amichai reflektieren.
Jehuda Amichai liebte es nämlich, sich in Cafés aufzuhalten. Diese Vorliebe, die er mit vielen anderen Dichtern teilt, war bei ihm offenbar sehr stark ausgeprägt. Denn in nicht wenigen seiner Gedichte ist von Kaffeehäusern die Rede. Lyriker sind ja von Haus aus genaue Beobachter. Und wo könnte man Menschen besser beobachten, wo könnte man besser ihren Gesprächen zuhören als in einem Café. Zumal sich hier das lyrische Geschäft des Beobachtens, des Zuhörens, des Ins-Gespräch-Kommens mit dem Vergnügen des Kaffeetrinkens verbinden lässt.
Amichai war ja beides: Ein sehr guter Menschenbeobachter & ein Genießer.

Die Altstadt-Cafés in Jerusalem scheinen es ihm dabei besonders angetan zu haben. Vor allem das Café Ataráh und das Café Tmol Schilschom.
Das Café Ataráh, auf Deutsch Café Krone, war von deutsch-jüdischen Auswanderern gegründet worden und ein Treffunkt der Jeckes.
Hier saß Amichai oft, weil es ihn an Deutschland und die schmerzlich vermisste Würzburger Heimat erinnerte.

Er hat dem Ataráh in zwei seiner Gedichte ein literarisches Denkmal gesetzt, wobei sich das eine auf das Atarah in Haifa bezieht, das andere auf das Jerusalemer Atarah bezieht.
Auch das Café Tmol Schilschom, auf Deutsch „Erst Gestern“ mochte Amichai sehr gerne. Es ist ein Lese-Café, in dem man, wie in den USA üblich, Bücher kaufen und gleichzeitig Kaffeetrinken kann.
David Ehrlich einer der Besitzer des Cafés war Literaturbegeistert, schrieb auch selbst und war mit Jehuda Amichai befreundet, der für ihn zur Café-Eröffnung 1994 eine Autorenlesung veranstaltete.
Daraus wurde eine Art Tradition. Nach Amichai haben im Tmol Schilschom viele andere berühmte Autoren gelesen: Etwa Amoz Oz, David Groszmann, oder Nadine Gordimer.

Begleiten Sie mich nun auf eine lyrische Reise durch Jehuda Amichais Café-Gedichte.
Erlauben Sie mir vorher noch ein Wort zu meiner Gedichtauswahl:
Warum habe ich Café-Gedichte für die diesjährige Amichai-Lesung ausgewählt?
Nun Amichai hat über ein Dutzend Café-Gedichte geschrieben und mir scheinen diese Gedichte deshalb besonders wichtig, weil sie uns einen Einblick in die Arbeitsweise von Amichai geben.
Im meine damit weniger die Tatsache, dass Amichai gerne Cafés besuchte, um dort mit den unterschiedlichsten Menschen in Kontakt zu kommen. Das natürlich auch.
Ich meine vor allem Amichais Schreib-Stil. Mit dem Auftreten der Café-Gedichte ab 1974 lassen sich nämlich viele Besonderheiten im lyrischen Stil und Gestus der Gedichte ausmachen, die sich vorher nicht bei Amichai finden.
Während in den Gedichten vor 1974 nur ganz selten ein „lyrisches Ich“ als Sprecherinstanz auftritt, sondern das „kollektives Wir“ dominiert, ändert sich nun die Lage mit Auftreten der ersten Café-Gedichte schlagartig:
Nun beherrscht „ein lyrisches Ich“ als Sprecherinstanz die Gedichte.
Gleichzeitig führt Amichai ab 1974 unter dem Einfluss der angelsächsischen Modernisten, wie etwa T.S. Eliot, die Technik des inneren Monologs ein.
Bezogen auf unsere Café-Gedichte heißt das, dass ein lyrisches Ich in einem Café-Haus sitzt und dort in einer Art Stream of Consciousness, einer Art Bewusstseinsstrom sich ganz unterschiedliche Dinge durch den Kopf gehen lässt.
Da das Auftreten der Café-Gedichte mit dieser stilistischen Wende einhergeht, können die Café-Gedichte quasi als Marker für den neuen Stil Amichais dienen.

Nun aber genug Theorien!

Lassen Sie mich Ihnen nun einige ausgewählte Café-Gedichte vorstellen, die einen gewissen Bezug zu Amichais eigener Biografie haben.
Unser erster Besuch führt uns in ein amerikanisches Café.
Amichai war ja des Öfteren in den USA, hat an Lesungen teilgenommen und Sommerkurse für Lyrik abgehalten.
So kam er auch nach Kalifornien, wo er das folgende Gedicht in einem Café in San Franzisco situiert.
Es hat den Titel: Der Name des Lokals war „Trieste“.
In der kurzen ersten Strophe wird ein Mann vorgestellt, der vom amerikanischen Gangster-Mythos inspiriert scheint.
In der zweiten Srophe, die den Hauptteil des Gedichts ausmacht kommt Amichai auf das biographische Erlebnis seiner Emigration 1936 aus Deutschland zu sprechen.
Im Sommer 1936 fuhr die Familie Pfeuffer von Würzburg mit dem Zug bis ins italienische Triest, um von dort aus mit dem Schiff „Gerusalemme“ nach Haifa überzusetzen.
Die Emigranten wurden seinerzeit schon unterwegs auf ihre neue Heimat in Palästina und die Ideologie des Zionismus quasi in Intensivkursen vorbereitet.

Diese Vorbereitung hat sich dem damals Zwölfjährigen so stark eingeprägt, dass er es im Gedicht als „Einhämmern“ beschreibt.
Die letzte Strophe zeigt, dass dieses Einhämmern vom jungen Dichter nicht gerade als angenehm empfunden worden sein muss:

 

Hier also das Gedicht:

 

Der Name des Lokals war Trieste

 

Ich saß in einem Café in San Franzisko.

Der Mann in der Mördermaske war innen

weich wie der Bauch des Ermordeten.

 

Der Name des Lokals war „Trieste“

wie der Name der Hafenstadt, von der aus

unser Schiff nach Israel auslief.

Dort war ich wie ein nagelneuer Nagel,

den man wie mit einem Hammer einschlug,

durchs ganze Mittelmeer

bis nach Eretz Israel.

 

Nichts verschwindet aus der Welt:

Was auf dem Schiff die drei Masten waren,

das sind jetzt drei Seufzer in mir, in mich hinein

 

 

Wir machen nun einen größeren zeitlichen Sprung in der Biographie von Amichai und kommen nach Haifa, als er sein erstes Studium abgeschlossen hatte und in der Hafenstadt als Lehrer unterrichtete.
Das Gedicht ist im Café Atarah in Hadar Ha-Karmél situiert, in dem Stadtteil Haifas, der sich an den Nordhang des Karmel anschmiegt.
Der Vater, ein sehr frommer orthodoxer Jude, besucht den Sohn zur Zeit des Mittagsgebets, weiß aber, dass sein Sohn inzwischen nicht mehr betet.

Er spielt mit ihm Schach, statt ihn, wie früher in Würzburg, mit in die Synagoge zu nehmen.
Durch die Metapher des Schachspielens wird nicht nur der Glaubenskonflikt zwischen Vater und Sohn beschrieben, sondern, weil das Spiel mit einem Matt endet auch die verfahrene politische Situation zwischen 1947 und 1948, die damals zwischen Juden und Arabern in Mandatspalästina herrschte.

Die britische Schutzmacht Palästinas hatte im November 1947 ihr Mandat an die UNO abgegeben und sich am 14. Mai 1948 endgültig aus Palästina zurückgezogen. An diesem Tag wurde der Staat Israel ausgerufen.
Vorher war es nach Verkünden des UNO-Teilungsplans für Palästina im November 1947 zwischen Juden und Arabern zu Unruhen und Schießereien gekommen, die rasch in den Krieg mündeten, der später in den jüdischen Geschichtsbüchern als Israelischer Unabhängigkeitskrieg, in den palästinensischen als Nakbah, als Katastrophe, bezeichnet werden sollte.
Die Soldaten, die von 1947 bis 1949 für Israels Unabhängigkeit gekämpft hatten, und Amichai gehörte auch dazu, wurden später als die 48er-Generation bezeichnet. Darauf nimmt das vielschichtige Gedicht in der Schlusszeile Bezug.

 

 

 

Begegnung mit dem Vater

 

Mein Vater kam zu mir in einer Pause

zwischen zwei Kriegen oder zwischen zwei Liebesaffären

wie zu einem Schauspieler, der sich hinter der Bühne im

Halbdunkel ausruht,

so kam er zu mir: Wir saßen im Café „Atarah“

in Hadar ha Karmel. Er fragte nach meinem kleinen Zimmer

und ob ich mit dem schmalen Lehrergehalt auskäme.

 

Papa, Papa, bestimmt hast du vor mir Kirschen gemacht,

die du liebtest, schwarze Kirschen, mit viel Rot darin!

Meine Brüder, meine Brüder, süße Kirschen aus dieser Welt.

 

Es war zur Zeit des Abendgebetes,

mein Vater wusste, dass ich nicht mehr betete

und sagte, komm lass uns Schach spielen,

so wie ich es dir als Kind beibrachte.

Es war im Oktober 1947,

vor den Schicksalstagen und den ersten Schüssen.

Damals wussten wir noch nicht, dass ich mal zur »Generation 48«

gehören würde,

damals, als ich Schachmatt mit meinem Vater spielte, 1948-Matt.

 

 

Das nächste Gedicht spielt zu einem viel späteren Zeitpunkt in der Biographie Amichais; diesmal im Café Ataráh in Jerusalem.
Ausgehend von der biographischen Situation, dass nun der Vater gestorben ist, erinnert sich der Sprecher an früher, schlägt einen Bogen zum Krieg und kehrt wieder zurück zu dem Sohn, der sich nun in der Vaterlosigkeit eingerichtet hat:

 

 

Zweite  Begegnung  mit meinem Vater

 

Wieder traf ich meinen Vater im Café Atarah

Dieses Mal war er schon tot. Draußen mischte der Abend

Vergessen mit Erinnern, so wie meine Mutter

immer Kalt mit Warm in der Badewanne mischte.

 

Mein Vater hatte sich nicht verändert, aber das Café Atarah

war frisch renoviert. Ich sagte: Glücklich, die

eine Bäckerei direkt im Café haben,

sie können hineinrufen: „Noch mehr Kuchen,

mehr Süßes, bringt mehr, bringt mehr!“

 

Glücklich die, die ihren toten Vater in der Nähe haben,

sie können ihn jederzeit rufen.

 

O, dieses ewige Kindergeschrei:

„Ich will, ich will!“

Bis es zum Schrei von Verwundeten wird.

 

O mein Vater, Fahrzeug meines Lebens, ich will

mit dir fahren, nimm mich ein bisschen mit,

setz mich dann neben meinem Haus ab

und fahre alleine weiter.

 

Wir gingen. Ein Mann blieb in der Ecke sitzen,

eine Hand war ihm amputiert.

(Beim letzten Treffen hatte er noch zwei Hände.)

 

Er trank Kaffee, stellte die Tasse hin,

aß Kuchen, legte die Gabel weg

und blätterte in einer Illustrierten,

legte sie weg

und die Hand auf die Zeitung,

ließ sie liegen und entspannte sich.

 

 

Wer Amichais Werk kennt der weiß, dass die Vater-Figur in diesem Gedicht allegorisch für den orthodoxen Glauben und letztlich für Gott steht.
So heißt es etwa in dem Gedicht Meiner Eltern Bleibe:
Mein Vater war Gott und wusste es nicht.
Damit bietet sich für „Zweite Begegnung mit dem Vater“ nicht nur eine zwischenmenschliche, sondern auch eine religiös-moralische Lesart an,

nämlich die, dass der lyrische Sprecher nun gelernt hat, ohne Vater, ohne dessen Glauben und ohne dessen Gott zu leben.

Der Sohn scheint zwar irgendwie amputiert, aber doch zurecht zu kommen.

 

Das nächste Gedicht  „Der wunderbare Bäcker“ ist nicht weniger philosophisch als das vorangegangene, es kreist um die Themen Erinnern, Beständigkeit, Seele und Tod.

Das Gedicht ist in Ramathaijm im Ephraim-Gebirge situert und hat damit einen deutlichen biblischen Bezug, stammt doch der Überlieferung nach der Prophet Shmuel von dort.

Der Name Wilheim lässt vermuten, dass das Café von einem deutschen Einwanderer gegründet wurde.

 

Der wunderbare Bäcker

Ich saß in den Morgenstunden im Außenbereich des Café Willheim

in Ramathajim

Die Faltstühle und die Klapptische waren Zeugen eines unbeständigen Lebens

Die schweren Lastkraftwagen die auf der Fernstraße vorbeifuhren

Rüttelten alte Erinnerungen wach

 

Man braucht so wenig zum Weinen:

Ein wenig Erschütterung, ein bisschen Erinnerung, ein bisschen Schmerz

und etwas Wasser

Wasser, mit dem man die Zitronenhaine bewässert,

von dem vielen Wasser, das keine Liebe auslöscht

Es ist eine Todesanzeige

an den Stamm des dicken Baums geheftet

der goldene Kleister tropft noch wie Harz herab

und der Name des frisch Verstorbenen glitzert im Sonnenschein

Er trug den Namen einer Stadt jener Welt Europa.

Wie wenig Leute es gibt, deren Nachname der Name ihres Geburtsortes ist

oder des Ortes, wo sie leben und sterben.

Die Geschichte fließt träge, klebrig wie Lava aus einer fernen Eruption

Ein Kind in Eilath heißt nach Abraham vom Zweistromland.

Ein Toter in Ramathajim heißt nach einer fernen Stadt,

die er noch nie in seinem Leben sah.

 

Die meiste Zeit unseres Lebens sind wir mit den Toten beschäftigt.

Wir schließen ihre Augen, wickeln sie in Tücher,

betrauern sie und erinnern uns an sie,

leben in einem Haus von einem Toten erbaut,

lesen in einem Buch von einem Toten verfasst

leben nach Gesetzen von Toten bei ihren Lebzeiten in Kraft setzten

und erinnern uns an ihre Erinnerungen

 

Ich sitze in diesem Café an der Fernstraße

und esse gefüllten Kuchen, Seelenkuchen für alle Lebenden

 

O du wunderbarer Bäcker vor deinem Backofen,

du bist viel weiter als alle Wissenschaftler,

denn du weißt, dass Körper und Seele eins sind,

dass ein Krug und sein Inhalt eins sind,

und dass ein Kuchen und seine Füllung eins sind

wie der Mensch und sein Tod eins sind

 

 

Zum Abschluss möchte ich Ihnen nun das Gedichte Wie die Flüsse im Negev vorstellen.
Es erschien 1989 in Amichais vorletztem Gedichtband „Auch die Faust war einmal eine offene Hand und Finger“, gehört also zu seinem Spätwerk.
Wie die Flüsse im Negev spricht noch einmal alle großen Themen von Amichais Lyrik an:

• den Sinn des Lebens,
• die Familie
• ein Leben ohne Gott und eigentlich doch mit ihm,
• Krieg und Tod,
• Das Altwerden und die Liebe.

Es zeigt uns den lyrischen Sprecher als einen der auf sein Leben zurückblickt und von Tränen der Rührung über ein trotz allem geglücktes Leben übermannt wird, so wie die ausgetrockneten Flussbetten in der Wüste Negev von einem erfrischenden Regen.

 

 

Wie die Flüsse im Negev

Ich sitze in den Nachmittagsstunden in einem Café.

Meine Söhne sind groß, meine Tochter tanzt anderswo.

Ich habe keinen Kinderwagen, keine Zeitung, keinen Gott dabei.

 

Ich sehe eine Frau, deren Vater mit mir in der Negev-Schlacht gekämpft hat,

seine Augen sah ich aufgerissen vor Schmerz und Todesangst.

 

Nun sind sie im Gesicht seiner Tochter, ruhige, schöne Augen.

Ihr übriger Körper – von anderswoher, ihr Haar ist in Friedenszeiten gewachsen,

andere Genetik, andere Generation, eine andere Zeit, die ich nicht kannte.

 

Ich besitze viele Zeiten so, wie im Uhrengeschäft jede der vielen Uhren eine andere Zeit anzeigt.

Meine Erinnerungen sind über die ganze Erde verstreut

wie die Asche von einem, der seinen Körper nach dem Tod

verbrennen und seine Asche über die sieben Meere zerstreuen lässt.

 

Ich sitze. Stimmengerede umgibt mich

wie die hübsche Ornamentik eines Treppengeländers,

durch die ich die Straße höre.

Der Tisch vor mir ist für Schnellgerichte so geformt wie eine Bucht,

wie eine Hafenpier, wie die Hand des Herren,

wie Braut und Bräutigam.

 

Manchmal steigen in mir Glückstränen hoch

wie wenn eine leere Straße sich plötzlich mit Fahrzeugen füllt,

wenn die Ampel an einer fernen Kreuzung auf grün gesprungen ist

wie wenn die Flüsse im Negev plötzlich von der Flut entfernten Regens

Hochwasser führen.

 

Danach wieder Stille, Leere, wie die Flüsse im Negev,

wie die Flüsse im Negev.

 

 

 

Meine Damen und Herren,
ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen weiterhin eine schöne Adventszeit,

ein fröhliches Chanukka-Fest, eine Frohe Weihnacht und einen guten Rutsch, ein gutes Rosh Hashana 2021!

Amadé Esperer

 Helmut Haberkamm zu Besuch bei Jehuda Amichai

Amadé Esperer: Herr Haberkamm, Sie waren 1992/93 in Israel und haben damals auch Jehuda Amichai in Jerusalem besucht. Wieso kamen Sie auf die Idee, Amichai zu besuchen? Kannten Sie seine Lyrik oder seine Romane?
Helmut Haberkamm: Ich kannte den Gedichtband Wie schön sind deine Zelte, Jakob, weil ich bei meiner Beschäftigung mit britischer und amerikanischer Lyrik auf seinen Namen gestoßen war. Er sagte mir nichts, also machte ich mich kundig. Dann las ich im September 1992 Besprechungen seines Romans Nicht von jetzt, nicht von hier, der soeben erschienen war. Ich las ihn und war begeistert und verblüfft, denn ich fragte mich: Wie kann ein in Würzburg geborener Dichter von Weltrang bei uns hier unbekannt sein? Anschließend las ich die Erzählungen Die Nacht der schrecklichen Tänze und stieß immer wieder auf Bezüge zu Franken, was mich tief berührte. Deshalb drang ich sofort darauf, dass Amichai in der im ars vivendi verlag erschienenen Anthologie Einwärts, auswärts. Moderne Prosa aus Franken (1993) vertreten war – gerade, weil man ihm hier das Heimat- und Existenzrecht geraubt hatte.
A.E.: Wie fand das Treffen statt?
H.H.: Eine Freundin von mir arbeitete eine Zeitlang beim Goethe-Institut in Tel Aviv und besorgte mir Amichais Kontaktdaten. Also rief ich ihn in Israel an und wir verabredeten einen Treffpunkt. Wir trafen uns am 6. Januar 1993 um 13 Uhr im Café Atarah in der Ben Jehuda Street 7. Amichai saß bereits an einem Tisch am Fenster und schaute versonnen hinaus auf die Straße, wo Autos und Menschen hin- und herjagten wie Fische im Aquarium. Es war alles sehr unangestrengt und zwanglos.
A.E.: Das ist ja interessant, dass ihr Treffen mit Amichai im Café Atarah stattfand. Dieses Café kommt auch in seiner Lyrik vor, zum Beispiel in dem Gedicht Zweite Begegnung mit meinem Vater. Können Sie ein bisschen über das Café erzählen, sein Flair, seine Geschichte?
H.H.: Seltsamerweise habe ich vom Café nur eine blasse Erinnerung. Es wirkte, als hätte man das Kaffeehaus etwa in Wien oder Berlin imitiert, aber verfehlt. Alles mutete schlichter an, unordentlich zusammengewürfelt, lässig bis lieblos arrangiert. Aber quirlig, rauchig, lebendig. Amichai sprach über die Besonderheit des Ortes. Dieses Café wurde 1938 gegründet, als ein gewisser Bernhard Grünspan in Palästina ankam. Er hatte in München ein Geschäft für Herrenkonfektion gehabt und eröffnete zusammen mit seinem Sohn Heinz in Jerusalem dieses Café, das „Atarah“, was im Hebräischen so viel wie „Krone“ bedeutet. Es wurde zum Stammlokal der „Jeckes“, der aus dem deutschen und dem österreichisch-ungarischen Kaiserreich ausgewanderten und der später aus NS-Deutschland vertriebenen deutschsprachigen Juden, in Jerusalem. Hierher kamen sie zum Zeitunglesen, zum Debattieren – oder zum Schweigen und Schauen. Ein Ort der Unterhaltungen und Überlegungen sozusagen.
A.E.: Welchen Eindruck hat Amichai auf Sie gemacht?
H.H.: Ein zurückhaltender, bescheidener, zunächst fast wortscheuer, dann mitteilsamer und ungemein warmherziger Mensch. Äußerlich klein, mit einem zerfurchten, bartlosen Gesicht und dünnen, grauen Haaren. Seine melancholischen Augen erinnerten mich an einen traurigen Clown, der seine Wehmut nicht verbergen kann, weil er die Menschen mag, trotz alledem.
A.E.: Amichai hat doch sicher mit Ihnen auf Deutsch geredet. Wie klang sein Deutsch?
H.H.: An seine Stimme kann ich mich nur vage erinnern, ich habe sie als weich und dunkel im Ohr, leicht angeraut und schwermütig. Die Worte kamen ihm sehr bedächtig und wohlgewählt über die Lippen. Die Aufweichung der fränkischen Konsonanten PTK und die Melodik des Würzburger Zungenschlags könnten darin noch nachgeklungen haben.
A.E.: Haben Sie mit ihm über seine Kindheit in Deutschland gesprochen? Was hat er erzählt?
H.H.: Wir sprachen über seine Erinnerungen an Deutschland, an Würzburg, an Franken. Ich erzählte ihm von mir, von meinem ersten Gedichtband Frankn lichd nedd am Meer, der im Herbst 1992 erschienen war, von meiner Beschäftigung mit der Geschichte der Juden in Franken, speziell in meiner Heimatregion, dem Aischgrund. Amichai erzählte von seinem Vater, dem Kaufmann Friedrich Moritz Pfeuffer, der mit seiner Familie in der Augustinerstraße in Würzburg lebte. Seine Eltern waren sehr gläubige, gottesfürchtige Menschen und ahnten Gott sei Dank sehr früh, worauf das Ganze hinauslaufen würde in Deutschland, nämlich auf Pogrome, Barbarei und totale Zerstörung. Nach 1933 wurde die Hetze der Nationalsozialisten immer brutaler. Da verließ die Familie Pfeuffer Deutschland im Jahre 1936, um in Palästina ein völlig neues Leben zu beginnen. Dieser Neubeginn zeigt sich auch in seinem bewusst gewählten, symbolischen neuen Namen, den er 1946 offiziell annahm: Mein Volk lebt. Ich vermute, er wollte nach Kräften alles Deutsche hinter sich lassen, aber die Erinnerungen und Prägungen ließen ihn zeitlebens nicht los.
A.E.: Hat er mit Ihnen über Israel geredet?
H.H.: Er fragte, was wir schon gesehen hatten und was wir noch vorhätten. Jerusalem war für ihn aber etwas ganz Besonderes und Einmaliges, das war klar. Diese uralte Stadt ist angefüllt mit Gott und Streit, ein Zentrum für so viele in der Welt. Himmlische Mächte und irdische Gewalten hinterließen dort ihre Spuren, wo bis heute die Widersprüche blühen, die Auswüchse und Irrtümer. Es war die Zufluchtsstätte von Gläubigen und Andersgläubigen, belagert von Bergen und Wüsten, Gefechten und Gebeten. Dieser Kreuzungspunkt war meines Erachten Amichais angemessener Lebens- und Weltort.
A.E.: Haben Sie mit ihm über seine Dichtung gesprochen?
H.H.: Ja, denn ich wollte ihm unbedingt meine Begeisterung mitteilen. Seine Gedichte übten von Anfang an eine große Anziehungskraft auf mich aus. Es ist Poesie voller Schmerz und Sinnlichkeit, gesättigt mit der Unmittelbarkeit des Alltagslebens und der heiteren Distanz der Ironie. Seine Sprache hat die archaische, symbolische Kraft der Bibel und im selben Atemzug die weltliche Direktheit der Straße. Das Schwere kommt in seiner Lyrik erstaunlich kunstlos daher, scheinbar profan, nie prätentiös oder pathetisch. Man liest bei ihm Sätze, die man nie mehr vergisst: Die Kindheit trägt einen Bart der Trauer. Das Herz ist wie eine verbrannte Zunge. Das Flugzeug im Körper möchte landen, es blinkt. Das Essen muss schnell gehen, zwischen einer Flucht und der nächsten. Wir sind Kinder derselben archäologischen Schicht – in der Zukunft.
A.E.: Wie war seine Einstellung Ihnen gegenüber? Hatte er Ressentiments den heutigen Deutschen gegenüber? Haben Sie mit ihm über das Dritte Reich gesprochen?
H.H.: Von Ressentiments war nichts zu spüren, im Gegenteil. Er freute sich über die Aufmerksamkeit, die seine Werke in Deutschland allmählich zuteilwurde. Deutsche Kollegen wie z. B. Christoph Meckel waren seine Freunde. Er war erstaunt darüber, dass ich meine Gedichte im fränkischen Dialekt schreibe und darin schwere, unangenehme Themen wie Drittes Reich, Judenverfolgung, Misshandlung von Zwangsarbeitern zur Sprache bringe. Das hat ihn überrascht und erfreut. Er hing sehr an der Stadt und Landschaft seiner Kindheit, das war meine Empfindung. Er sprach versöhnlich und mit Wehmut von Franken, zeigte sich interessiert an meinen Anliegen, auch wenn mitschwang, dass alte Wunden und Verluste stets präsent blieben in ihm.
A.E.: Hat er über die vielen Kriege erzählt, an denen er teilgenommen hat?
H.H.: Nein, ich habe auch nicht danach gefragt. Alles Private, seine Familie, seine Frauen und seine Kinder, all dies wollte ich nicht von mir aus ansprechen, weil ich das als ungehörig empfunden hätte. Amichai wirkte auf mich nachdenklich und melancholisch, in sich gekehrt und von einer gütigen Wehmut erfüllt. Das war der Eindruck, den ich nie vergessen habe.
A.E.: Worüber haben Sie sonst noch geredet?
H.H.: Wir sprachen über Gottfried Benn, dessen Gedichte Amichai liebte, über Christoph Meckel, den er schätzte und der das Nachwort zum deutschsprachigen Lyrikband Amichais beigesteuert hatte. Über englische und amerikanische Lyrik, Ted Hughes und William Heyen. Über Gedichte in fränkischer Mundart. Über das große Ziel, die gesprochene Sprache in Literatur zu verwandeln, sie mit Tiefe, Weite und Gewicht zu versehen, so dass sie Bedeutsames, Bleibendes zu tragen vermag. Amichai sagte, dass er im Mai in Berlin und Würzburg sein werde, dass 1994 ein neuer Gedichtband von ihm erscheinen soll.
A.E.: Lieber Herr Haberkamm, vielen Dank für dieses hoch interessante Gespräch.

Autoren

Amadé Esperer ist der Gründer und Herausgeber der Literatur- und Kunstzeitschrift von ARIEL und ARIEL-ART. Er ist ein mehrfach ausgezeichneter Lyriker, Flash-Fiction-Autor, Essayist und literarischer Übersetzer. Zuletzt hat er die Anthologien Jehuda Amichai.Gedichte (2018), Zwischen Würzburg und Jerusalem (2018) sowie Jehuda Amichai und die zeitgenössische Lyrik Israels (2019) mit Amichai-Übersetzungen herausgegeben. Außerdem sind von ihm mehrere Gedichtbände mit eigener Lyrik erschienen, zuletzt Die Bewohnbarkeit des Mondlichts (2019) und Still-Leben (2020) sowie der Flash Fiction-Band Im Auge lacht der Augenblick (2020). 2018 rief er die Würzburger Amichai-Lesung ins Leben, die er seither in jährlichem Rhythmus unter dem Patronat der Stadt Würzburg leitet. Weitere Informationen bei https://ariel-art.com/staff

Helmut Haberkamm 1961 in Dachsbach (Aischgrund) geboren, lebt in Spardorf bei Erlangen. Seit Jahren gehört der mehrfach ausgezeichnete Autor mit seinen Gedichtbänden wie Frankn lichd nedd am Meer, Uns schiggd der Himml und Englische Grüß sowie seinen Theaterstücken wie No Woman, No Cry – Ka Weiber, ka Gschrei, We are the champions – Mir sinn die Greßdn oder Glopf an die Himmelsdür zu den bekanntesten fränkischen Schriftstellern. Er ist Song-Übersetzer (sein Buch mit Dialekt-Übertragungen von Bob-Dylan-Songs erscheint 2021), Erzähler (Das Kaffeehaus im Aischgrund, Die warme Stube der Kindheit), Essayist (Kleine Sammlung kleiner Dörfer, Gräschkurs Fränkisch) sowie Initiator des Fränkischen MundArt-Festivals Edzerdla in Burgbernheim.

* Foto Haberkamm: Andreas Riedel